Theologie

Buchrezensionen: Biblische Archäologie am Scheideweg?

Prof. Dr. theol. Dr. phil. Thomas Schirrmacher · 
01.01.2003

Peter van der Veen, Uwe Zerbst (Hg.). Biblische Archäologie am Scheideweg? Für und Wider einer Neudatierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen Pa- lästina. Studium Integrale. edition ‚pascal’. Hänssler: Holzgerlingen, 2002. 535 S. geb.

1. Ein ungewöhnliches sorgfältiges Buch 

Gratulation! Dies Buch ist schon in der äusserlichen gebundenen Aufmachung und im Seitenbild beim reinen Durchblättern Spitzenklasse und eine einzige Einladung zum Kaufen und Lesen, was für ein wissenschaftliches Buch zu einem Spezialthema (also mit Ausnahme von auflagenstärkeren Lehrbüchern) sicher ungewöhnlich ist. Im Bereich der Schöpfungsforschung kann nur noch das Schulbuch ‚Evolution’ damit konkurrieren. Die äussere Aufmachung stimmt dabei mit dem Inhalt überein. Der erste Eindruck der ausserordentlichen Sorgfalt, mit der das Buch erstellt wurde (ich schreibe das nicht als einer, der zum ersten Mal ein Buch in der Hand hält!), bleibt auch beim längeren Detailstudium erhalten. Erst dadurch werden die vielen Pro- und Contrabeiträge zu einem sinnvollen Ganzen vereint. Eine durchdachte Gliederung der einzelnen Streitthemen, grau unterlegte Einführungen der Herausgeber in jedes Kapitel, die die Diskussion zusammenfassen, die vielen Übersetzungen, Literaturangaben, Zeichnungen, Bilder, es stimmt einfach fast alles. (Damit bei all’ den lobenden Worten der Rezensent nicht in Verdacht gerät, er wolle nur Werbung machen, sei der kritische Hinweis auf die fehlenden Autorenvorstellungen erlaubt, die man etwa am Ende des Buches hätte zusammenstellen können. Man hätte doch gerne gewußt, wen man jeweils vor sich hat, ob es sich um Theologen, Archäologen o. a. handelt und welche Erfahrung sie im Bereich der alttestamentlichen Exegese oder der Archäologie haben.)

Es bleibt zu hoffen, dass dieser Einsatz ganz unabhängig davon, wie man zum Inhalt des Buches steht, dazu anregt, dass sich aus dem evangelikalen Bereich mehr Forscher finden, die an der internationalen Ausarbeitung einer neuen (oder der Verteidigung der alten) Chronologie der antiken Kulturen beteiligen, oder dass sich jüngere Christen durch die spannende Entwicklung dazu inspirieren lassen, Ägyptologie, Archäologie, semitische Sprachen, Altes Testament oder verwandte Fächer und Bereiche zu studieren.

2. Erwachsen geworden 

Das Buch lässt einmal mehr erkennen, dass der ‚Kreationismus’ von dereinst, der eher davon lebte, der Vielfalt der wissenschaftlichen Meinungen nicht nur die biblische Offenbarung, sondern auch die eine wissenschaftliche Wahrheit entgegenzuhalten, bei uns erwachsen geworden ist (ich hätte fast gesagt ‚im Gegensatz zu einigen Entwicklungen in den USA’). Früher taten viele ‚Kreationisten’ so, als wäre ihre Auslegung eines Bibeltextes oder ihre naturwissenschaftliche Interpretation desselben ebenso unfehlbar, wie der Bibeltext selbst. Doch wer sich einmal anschaut,

was man unter den ‚Schleusen des Himmels’ im Sintflutbericht so alles verstanden hat, weiss, dass man deutlich zwischen dem, was der Bibeltext tatsächlich sagt (und nicht sagt), und unseren möglichen Interpretationen oder möglichen Erklärungen unterscheiden muss.

So wie die Forschung zu den Grundtypen das alte Schwarz-Weiß-Schema ‚ein jedes nach seiner Art’ contra Evolution aller Arten zugunsten der Erforschung der Mikroevolution innerhalb fester Grundtypen und einer Vielfalt von wissenschaftlichen Sichtweisen auch unter Schöpfungsforschern aufgegeben hat, so kommt das vorliegende Buch weg von der Gegenüberstellung ‚Vertrauen in die Bibel = Chronologie X’ und ‚Bibelkritik = Chronologie Y’. Es zeigt sich dabei, dass dann auch säkulare Autoren wie David Rohl, sofern sie die Bibel nicht von vorne herein für völlig unglaubwürdig halten, in das Gespräch einbezogen werden können.

In diesem Buch kommen sowohl ganz unterschiedliche und sich teilweise widersprechende Vertreter einer ‚neuen’, alternativen Chronologie zu Wort, wie auch evangelikale Vertreter, die die ganze Diskussion für verfehlt halten, wie etwa Martin Heide (S. 373-380). (Ob sich die STH Basel wie andere evangelikale Hochschulen allerdings einen Gefallen tut, bei einem ihrer ureigensten Themen der historischen Glaubwürdigkeit der frühen Quellen des AT’s so einseitig Position zu beziehen und die Diskussion aussen vor zu lassen, möchte ich bezweifeln. Selbst John Bimson, dessen Dissertation zur Zeit meines Studiums dort fast kanonischen Charakter hatte, hat sich da ja längst weiterentwickelt. Schade, dass Vertreter evangelikaler theologischer Hochschulen in der ganzen Debatte fast völlig fehlen. Wir schicken jedenfalls Studenten und Dozenten zu jeder W+W-Tagung zum Themenkomplex.) Die archäologische Arbeitsgruppe von Wort + Wissen hat jedenfalls gut daran getan, sich seit längerem unter der Leitung der beiden Herausgeber der Thematik des Buches zuzuwenden und die entscheidenden Vertreter verschiedener Alternativen zu Vorträgen einzuladen. Nur im gemeinsamen Gespräch und in der direkten persönlichen Auseinandersetzung kommt man letztlich weiter.

Die Autoren geben selbst deutlich an, daß die vorgestellten Alternativen dringend der weiteren Erforschung und Diskussion bedürfen (z. B. S. 20+519+524). Nur erbitten sie von der Gegenseite dieselbe Bereitschaft, auf andere zu hören und nicht per Dekret andere Auffassungen gar nicht erst zum Gespräch zuzulassen.

3. Eine neue Chronologie? 

Bis in die 60er Jahre war es vorherrschende Meinung, daß die syro-palästinische (auch levantische) Archäologie das Alte Testament im großen Stil bestätigt habe (‚Und die Bibel hat doch Recht’). Seitdem aber die historisch-kritische Theologie die Abfassung bzw. Redaktion der alttestamentlichen Bücher zunehmend und immer radikaler in eine Zeit lange nach den dort geschilderten Ereignissen gelegt hat, gilt das Alte Testament als historisch unergiebig. Die Chronologie Israels wird heute wie andere antike Kulturen in Ermangelung absolut datierbarer Fixpunkte an der mit solchen reichlich versehenen ägyptischen Chronologie ‚geeicht’. Eine Veränderung der gegenwärtig vorherrschenden ägyptischen Chronologie hat deswegen automatisch die Veränderung der Chronologie der umliegenden Kulturen zur Folge.

Die zerstörten Mauern von Jericho gehören derzeit der falschen Zeit an, im alternativen Modell werden aus ihnen wie von unsichtbarer Hand gesteuert die unter Josua zerstörten Mauern. Die Paläste und Pferdestelle in Megiddo aus der späten Brozezeit sind keinem bekannten Herrscher zuzuordnen, in der alternativen Chronologie sind es wohl die im Alten Testament beschriebenen Bauten Salomos. Plötzlich scheinen Mose, Josua, Josef, David u. a. greifbar zu werden. Grund genug, daß sich nicht nur konservative Bibelwissenschaftler fragen, ob nicht vielleicht einfach die Datierungen falsch sind. Denn immerhin ist das Alte Testament die einzige lückenlose Geschichtsschreibung eines Volkes des Altertums, ja eine der Hauptquellen für das Geschichtskonzept, das den historischen Wissenschaften zugrunde liegt.

Sollte ein Fehler in der Gesamtchronologie vorliegen, würden unweigerlich biblische Berichte mit den falschen Sichten der Ausgrabungen in Verbindung gebracht und als unglaubwürdig angesehen werden. Wo könnte ein solcher Fehler liegen? Vor allem in dem sog. ́dunklen Zeitalter’, einer Zeit, die in Ägypten ebenso wie in den Nachbarkulturen nur durch wenige historische Zeugnisse erhellt wird und schon lange zu Diskussionen Anlaß gibt. Der Unterschied zwischen der traditionellen und der alternativen Chronologie kommt nun zustande, wenn man davon ausgeht, daß die 21. und 22. Dynastie in der sog. Dritten Zwischenzeit der ägyptischen Geschichte nicht vollständig nacheinander regiert haben, sondern sich überlappten. Richard Wiskin hatte in seinem populärwissenschaftlichen Buch ‚Das biblische Alter der Erde‘ (Hänssler: Neuhausen, 1994) unter anderem die offizielle sog. ägyptische Chronologie in Frage gestellt und der biblischen Chronologie auch gegenüber der Ägyptologie den Vorrang eingeräumt. Dass er dabei nur unterschiedliche Alternativmodelle vorstellen konnte, liegt eben daran, dass auch die Schöpfungsforschung als Wissenschaft in der Entwicklung begriffen werden muss. Dass er neben die von mir seinerzeit [Bibel und Gemeinde 91 (1991) 4: 390-427; Factum 5/1992: 40-46 & 6/1992: 33-41; abgedruckt in ‚Galilei-Legenden und andere Beiträge zur Schöpfungsforschung …‘ Bonn, 1995. S. 73-139] vorgestellte Sicht Courvilles neuere und abweichende Ergebnisse von Rohl, Bimson, James und van der Veen u. a. stellte, habe ich damals an dieser Stelle ausdrücklich begrüßt. Mit Courville habe ich damals das letzte geschlossene Modell einer alternativen ägyptischen Chronologie

vorgestellt, das jedoch von 1971 stammt und natürlich längst durch bessere Modelle überholt ist, die nur noch nicht zu einer wirklich umfassenden Alternative ausgebaut wurden

Der säkulare Droemer Knaur Verlag hatte dann 1996 ein populärwissenschaftliches Buch über das Alte Testament als reich illustrierten, schönen Band auf den Markt gebracht, mit dem die deutsche Öffentlichkeit erstmals unübersehbar mit der beginnenden, aber auch umstrittenen Revolution der ägyptischen Chronologie bekanntmacht wurde, die auch enorme Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit des Alten Testaments hat (David Rohl. Pharaonen und Propheten: Das Alte Testament auf dem Prüfstand. Droemer Knaur: München, 1996. 510 S.).

Auch wenn im vorliegenden Buch Vertreter unterschiedlicher Modelle zu Wort kommen, die jeweils eine Verkürzung der ägyptischen Chronologie irgendwo zwischen 200 und 350 Jahre andenken oder fordern, stehen doch die Thesen von Rohl im Mittelpunkt, weniger, weil die Herausgeber sie für die besten halten, sondern vielmehr deswegen, weil sie in ihrer Präsentation am weitesten fortgeschritten ist. John Bimson ist mit der Thematik zwar seit Jahrzehnten verbunden, aber seine Sicht ist derzeit im Fluß. Peter James wirkt in einem ganz anderen Bereich usw. Deswegen sei Rohls Sicht hier kurz als Beispiel angerissen, um zu zeigen, worum es geht.

Rohl ist kein Evangelikaler und studiert das Alte Testament nicht mit theologischem Interesse, geschweige denn als Quelle göttlicher Offenbarung. Er stellt die gesamte Rekonstruktion der alten nahöstlichen Chronologie in Frage, auf die sich ‚historisch-kritische‘ Theologen gerne berufen, um zu zeigen, dass die Berichte der Mosebücher usw. Mythen enthalten, die sich mit der Geschichte der Umwelt Israels nicht vereinbaren lassen. Rohl geht kurz gesagt davon aus, dass die ägyptische Geschichte auf eine zu lange Zeit verteilt wird, dass also einige ägyptische Pharaonendynastien nicht nacheinander, sondern gleichzeitig regiert haben, wodurch sich namentlich die sog. dritte Zwischenzeit – ein Zeitabschnitt der ägyptischen Geschichte – stark verkürzt. Die Verschiebung der ägyptischen Chronologie führt dazu, dass die ägyptische Chronologie mit der israelitisch-alttestamentlichen Chronologie in bessere Übereinstimmung kommt, so dass plötzlich bestimmt werden kann, welches der Pharao des Exodus war oder wo der Palast des Wesirs Josephs stand. Die Übereinstimmung von Altem Testament und Quellen der ägyptischen Geschichte ist so verblüffend, dass Versuche evangelikaler Alttestamentler, mit der gängigen Chronologie die Glaubwürdigkeit des Alten Testaments zu verteidigen, demgegenüber verblassen – was alleine Rohls Thesen natürlich noch nicht für richtig erklärt, aber Grund genug ist, diese Thematik genauer zu untersuchen. Man darf jedenfalls gespannt sein, wie die Diskussion weitergeht.

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Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. h. c. Thomas Paul Schirrmacher, Jahrgang 1960, 1978-82 Stud. Theol. STH Basel, 1982 Mag. theol., 1985-91 Stud. Vergleichende Religionswiss., Völkerkunde u. Volkskunde an d. Univ. Bonn, 1984 Drs. theol. Theol. Hogeschool Kampen/NL, 1985 Dr. theol. Johannes Calvijn Stichting 

Theolog. Hogeschool Kampen/NL, 1989 Ph. D. (Dr. phil.) in Kulturalanthropologie Pacific Western Univ. Los Angeles, 1996 Th. D. (Dr. theol.) in Ethik Whitefield Theological Seminary Lakeland, 1997 D.D. (Dr. h.c. ) Cranmer Theological House Shreveport. 1983-90 Doz. Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. FTA Gießen, 1984-89 Doz. f. Altes Testament u. Sozialethik Bibelseminar Wuppertal, seit 1993 Doz. Sozialethik u. Apologetik Bibelseminar Bonn, seit 1984 Gen.-Dir. d. IWGeV, seit 1985 Chefhrsg. d. Verlag f. Kultur u. Wiss., zusätzl. seit 1987 Inh., seit 1986 Präs. u. wiss. Koordinator Theological Education by Distance Deutschland (TFU) Altenkirchen, 1991-96 Lehrstuhl Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. STH Basel, zusätzl. 1995-96 Lehrstuhl f. Ethik, 1991-96 Lehrstuhl f. postgraduate studies in Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. FST Genf, zusätzl. 1995-96 Lehrstuhl f. Ethik, seit 1994 Prof. f. Missionswiss. Philadelphia Theological Seminary Philadelphia, seit 1996 Prof. f. Ethik Cranmer Theological House Shreveport, seit 1996 Rektor u. Prof. f. Ethik Martin Bucer Seminar Bonn, seit 1996 Prof. f. Theology u. Dir. d. dt. Zweiges Whitefield Theological Seminary, seit 1996 Rektor d. Martin Bucer Seminar Bonn. P.: 29 Bücher, darunter „Ethik“ (1993. 

Zahlr. wiss. Artikel in dt., engl., niederländischer u. russischer Sprache, Chefredakteur Bibel u. Gem. 1988-97, Chefredakteur „Querschnitte“ 1988-92, Mithrsg. seit 1992, Hrsg. seit 1997, seit 1994 Mithrsg. Intern. Review for Reformed Missiology NL, seit 1992 Europ. Hrsg. Contra Mundum: a Reformed Cultural Review (USA), 1992-96 Redaktion Evangelikale Missiologie, seit 1996 Chefredakteur Evangelikale Missiologie, Hrsg. v. Buchreihen, alleinger Hrsg. v. 3 Buchreihen, Chefredakteur v. 3 Buchreihen, Mithrsg. v. 6 Buchreihen. E.: 1997 Dr. h.c. Cranmer Theological House Shreveport, berufenes wiss. Mtgl. Dt. Ges. f. Missionswiss. M.: AfeM, 1985-87 Kurdisches Inst., seit 1988 Chefredakteur Bibelbund Reiskirchen, 1994-97 Präs. d. Inst. f. Islam u. Christentum Bruchsal, 1993-96 Präs. PBC Bonner Bez., seit 1987 Sprecher ISM Deutschland, seit 1992 Sprecher Ev. Allianz Bonn, seit 1996 Präs. Aktion christl. Ges. Bonn. Thomas Schirrmacher ist im Rahmen der Deutschen Ev. Allianz und der World Evangelical Felloship in Menschenrechtsfragen aktiv und lehrt zur Zeit Ethik am Whitefield Theological Seminary (Lakeland, USA) H.: Intern. Zoos, klass. Musik (Bach b. Tschaikowsky), klass. Krimis. 

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