Sozialwissenschaften

„Postfaktisch“ durch „Fake News“?

Hans Mathias · 
19.01.2017

Die Wahl des Begriffs „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres“ 2016 sowie der Verweis auf das neue „postfaktische Zeitalter“ vermitteln den Eindruck, dass wir bisher in einem „faktischen Zeitalter“ gelebt hätten. Stimmt das? Der Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie nach Fukushima beruhte nicht auf den risikorelevanten Fakten, die die Reaktorsicherheitskommission vorgelegt hatte, sondern auf den medial geschürten Ängsten eines Großteils der Bevölkerung. Der Anstoß für den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Bundespräsident Wulff gab nach Auskunft des zuständigen Generalstaatsanwalts ein Bild-Artikel, dessen zentrale Aussage aufgrund einer Einstweiligen Verfügung des Landgerichts Köln nicht weiter verbreitet werden durfte. Die technische Manipulation der Abgastests durch VW beruhte auf systematischen Täuschungen und führte zu stärkeren Umweltbelastungen. Die Täuschungen sind unstrittig, die Zusatzbelastung der Umwelt durch VW-Diesel etwa im Vergleich zu jener durch Kohlekraftwerke wegen der Abschaltung von Kernkraftwerken ist jedoch nach wie vor unbekannt. Das sind keine aktuellen Extremfälle. Als sensationelle Berichte über die Schweinegrippe, die in Deutschland 258 Menschenleben forderte, die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten, starben hierzulande über 10.000 Menschen an der saisonalen Grippe, was aber niemand sonderlich erregte. Ähnliche Diskrepanzen zwischen Fakten und Emotionen gab es bei BSE, SARS, Vogelgrippe und Ehec.

Die Medien haben innerhalb von dreihundert Jahren den Nebel der Spekulationen über die Welt jenseits unseres Erfahrungshorizontes erheblich verringert und uns ein gutes Stück auf dem Weg zu einem faktischen Zeitalter vorangebracht. Trotzdem leben wir vor allem in Krisen, bei Konflikten und Skandalen auch aufgrund von vermeidbaren Fehlern der Medien noch immer in einem präfaktischen Zeitalter. Als eine wesentliche Ursache des „postfaktischen Zeitalters“ gelten „Fake News“ – absichtliche Falschmeldungen. Falschmeldungen hat es auch in den traditionellen Medien immer gegeben, und es gibt sie noch heute. Die Badewanne von Bischof Tebartz-van Elst hat nicht, wie man bis heute lesen kann, 15.000 Euro gekostet, sondern 1.795,21. Und Wolfgang Schäuble hat nicht Putin mit Hitler verglichen, sondern beide in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt und sich ausdrücklich gegen Vergleiche verwahrt.

Falschmeldungen waren immer selten und noch seltener konnte man eine Absicht nachweisen. Prominente Ausnahmen wie die manipulierte Emser Depesche, die den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 auslöste, bestätigen die Regel. Praktisch bedeutsamer als absichtliche Falschmeldungen sind unvollständige Meldungen, die falsche Vorstellungen und übertriebene Ängste hervorrufen. So konnte man beim BSE-Skandal immer die aktuelle Zahl der positiv getesteten Rinder lesen. Die entscheidende Information erhielten die meisten Berichte aber nicht – die Zahl der getesteten Rinder. Deshalb konnten die Mediennutzer nicht abschätzen, wie groß das Risiko war, Fleisch von befallenen Rindern zu essen. Bis Ende 2001 wurden 131 von 2,8 Millionen oder 0,004 Prozent der Rinder positiv getestet. Hätten sie es gewusst, wären sie vermutlich weniger besorgt gewesen.

Auch die massenhafte Verbreitung von richtigen Meldungen kann falsche Vorstellungen und Verhaltenskonsequenzen verursachen. Die weitaus meisten Meldungen über schwere Verkehrsunfälle und Verbrechen treffen zu. Sie mögen sensationell aufgemacht sein, aber die Fakten stimmen. Trotzdem überschätzen die meisten Menschen die Häufigkeit von schweren Verkehrsunfällen und Verbrechen erheblich, weil die Medien vor allem darüber berichten. Die Mediennutzer leiten daraus falsche Folgerungen ab, weil sie sich weniger an einzelnen Informationen als an der Zahl der Meldungen über tatsächliche und mögliche Probleme orientieren: Je häufiger sie darüber berichten, desto bedrückender und dringender erscheinen sie. Deshalb können die Medien auch mit richtigen Meldungen falsche Vorstellungen, unrealistische Hoffnungen und übertriebene Ängste hervorrufen. Das wäre weniger problematisch, wenn die gleichen Menschen nicht die Risiken durch selten berichtete Schadensursachen unterschätzen würden, etwa Diabetes und Radfahrer.

Eine Ursache der fragwürdigen Gewichtung von richtigen Meldungen vor allem bei Skandalen ist die starke Orientierung der Journalisten an der Berichterstattung ihrer Kollegen bei anderen Medien. Dadurch kann sich die gleichgerichtete Berichterstattung über Missstände innerhalb weniger Tage gegenseitig aufschaukeln und zu einem Trugbild verdichten. Das geschieht bei Skandalen auch dann, wenn die Meldungen zwar sensationsheischend formuliert aber nicht im engeren Sinne falsch sind. Das Übel falscher Vorstellungen, fehlgesteuerter Emotionen und kontrafaktischer Verhaltensweisen ist nicht durch Fake News im Internet in die Welt gekommen. Es war schon lange vorher da. Die in den sozialen Medien platzierten Fake Newswerden vermutlich immer häufiger auftauchen und die damit verbundenen Probleme vergrößern. Aber die Vorstellung, damit würde eine neue Problematik geschaffen, ist wirklichkeitsfremd, und mit der angedachten Schaffung einer irgendwie staatlich verbandelten „Wahrheitsbehörde“ würde man den Bock zum Gärtner machen.

Die einzigen, die ohne große Risiken und Nebenwirkungen Fake News korrigieren können, sind die Journalisten bei etablierten Medien. Deshalb wird ihre Bedeutung eher zu- als abnehmen. Allerdings kann man bezweifeln, dass sie die Ursachen der immer häufigeren Anprangerung marginaler Missstände beseitigen. Zu den Mechanismen solcher Skandalisierungen gehören massive Übertreibungen, eine unkritische Orientierung an Kollegen, das Vertrauen auf die Richtigkeit dominanter Sichtweisen usw. Dazu kommen Ursachen auf Seiten der gesellschaftlichen Akteure und der Mediennutzer – die Fehler der Handelnden vor und während ihrer Skandalisierung und die naive Nutzung gehäufter, ähnlicher Berichte durch die Leser, Hörer und Zuschauer. Gegen die dadurch ausgelösten Mechanismen sind die Medien und ihr Publikum in Zukunft vermutlich genauso wenig gefeit wie in der Vergangenheit. Allerdings kann man sie erkennen, einschätzen und abfedern.

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