Das Christentum brachte einen Umbruch im Leben Europas wie auch in der Weltgeschichte allgemein. Es veränderte radikal die Mentalität der europäischen Gesellschaft und rettete viele Länder vor der geistlichen Degradierung. Als Beispiel hierfür nehmen wir Rom, das unter seiner schwierigsten geistlichen Krise litt und Dank des Christentums aus dieser herausfinden konnte. Das Christentum gewann auch für die Entwicklung der georgischen Welt an großer Bedeutung. Die Bekehrung zum Christentum bestimmte die nationale Mission Georgiens. Das Land gelangte in eine besondere geopolitische Lage, da das Christentum Georgien von der mazedonischen Welt abgrenzte und dadurch sein ewiges Schicksal und seine Bestimmung definierte. Von da an wurde das Christentum zum Hauptmerkmal der georgischen Identität.
Die offizielle Anerkennung der christlichen Religion im römischen Reich ist mit Kaiser Konstantin dem Großen verbunden und geschah im 4. Jh. n. Chr.. Das Schicksal des Christentums in Westeuropa hing von der offiziellen Entscheidung des damals größten Imperiums – des römischen Reiches – ab. Der Wille und der Wunsch Kaiser Konstantins bestimmten diese Entscheidung. Vor der Schlacht gegen den Usurpator des weströmischen Kaiserthrons, Maxentius, hatte Konstantin der Große eine Vision gehabt, in welcher er angewiesen wurde, auf die Schilde seiner Soldaten das Christusmonogramm aufbringen zu lassen. Diese Erscheinung ist ein Zeichen für das Dasein des christlichen Denkens bei Konstantin. Nach dem Kampf ist Kaiser Konstantin, der Sieger, schon ein Christ, er fühlt sich als Christ.
Die Erklärung der christlichen Religion zu einer offiziellen Staatsreligion in Georgien passierte zur gleichen Zeit wie die Christianisierung Roms. In der alten Hauptstadt von Kartlienen, Mzcheta, war ein großes Heiligtum, das Gewand des Propheten Elias aufbewahrt. Diese Tatsache deutet darauf, dass Gott Georgien für die Bekehrung zum Christentum vorbereitete. Im 1. Jh. n. Chr. haben zwei Juden namens Elios und Longinos, die aus Mzcheta stammten, nach der Kreuzung Christi das “Gewand des Herrn“ in die Heimat nach Mzcheta gebracht. Die Stelle, wo das Gewand ruht, ist auch heute gleichwertig der Grabstätte von Jesus Christus in Jerusalem. Das Gewand Christi, das keine Nahten hat, ist ein Symbol der Einheit der christlichen Kirche. Die Christianisierung Georgiens wurde durch die Verkündung des Glaubens von den Aposteln Andreas dem Erstberufenen, Simon dem Kanaaniter und Matthias weiterverbreitet. Dem folgte die Erhebung des christlichen Glaubens zur Staatsreligion zur Regierungszeit des Königs Mirian III., des Zeitgenossen von Kaiser Konstantin. Die Bekehrung Mirians zum Christentum war, gleich wie bei Konstantin, das Ergebnis einer persönlichen Erfahrung, die der König während einer Jagd machte. König Mirian wurde durch die Kraft des Kreuzes von seinem Leid erlöst. Genau wie Kaiser Konstantin nach dem Kampf mit Maxentius ist auch König Mirian nach der Jagd mental schon ein Christ geworden. Unmittelbar nach der Rückkehr nahm er den christlichen Glauben an und wurde getauft. Zuerst hat der König den Glauben angenommen, dann folgte ihm das Volk. Im Fall Konstantins war es anders. Zuerst wurde Konstantin als Auserwählter anerkannt, erst später wurde er getauft. An dem Ort, wo das Gewand Christi ruht, wurde die erste georgische Kirche erbaut, die Swetizchoweli-Kathedrale.
Im 5. Jh. haben hauptsächlich zwei Mächte – Rom und Iran – die Weltpolitik bestimmt. Iran unterstützte Christen und pflegte gute Beziehungen mit Byzanz. Beide fühlten sich von nordkaukasischen Nomadenstämmen bedroht und interessierten sich deswegen für Georgien. Georgien kontrollierte seinerseits die Dariali- und Darbandi-Pforten und war dadurch für den Westen interessant. Es gewann an Bedeutung, sich mit dem Land zu verbünden und Freundschaft zu schließen. Römische Dyophysiten wurden von Monophysiten attackiert. Kaiser Zenon und Patriarch Akakius waren gezwungen nachzugeben und erließen den Henotikon – ein Edikt, das Dyophysiten und Monophysiten zu versöhnen suchte. Der Kompromiss wurde auf der dogmatischen Ebene eingegangen und erkannte die Rechte der Monophysiten an. Georgien hatte sich zwischen Rom und Iran zu entscheiden. Es ist interessant zu beobachten, welchen Standpunkt in gegebener Situation der König von Kartlien, Wachtang I. Gorgasali (*440 n. Chr. – †502 n. Chr.), vertreten und wie er seine Entscheidung getroffen hat. Es war keine politische Entscheidung. Für ihn standen die Werte im Vordergrund. Obwohl Iran zum gegebenen Zeitpunkt eine politisch starke Macht darstellte, orientierte sich Georgien an Rom und damit am Westen. Statt geopolitischer Faktoren spielten zivilisatorische Faktoren die entscheidende Rolle. Der König wählte das Christentum. Die Tatsache, dass Rom dem christlich-dyophysitischen Glauben folgte, war für Georgien entscheidend. Deswegen ist es dem Henoktikon beigetreten. Kartlien erlangte die kirchliche Unabhängigkeit von der Antiochenischen Kirche und die Autokephalie gewonnen. Kartlien, welche das Henoktikon durchführte, wurde zu einem zuverlässigen Partner Roms.
Im 6. Jh. n. Chr. veränderte sich das Verhalten der Byzanz zu Monophysiten. Der byzantinische Kaiser Justinian und seine Nachfolger vereinten das Reich, um es leichter regieren zu können, und versuchten, soziale und ethnische Gerechtigkeit aufzubauen, die auf der Religion beruhte. Sein Prinzip war: „Ein Reich – Eine Religion“. Das Orthodoxe Christentum wurde zur Religion des Reiches, woraufhin Monophysiten verfolgt wurden. Die georgische Kirche ist der kirchlichen Politik gefolgt, die König Wachtang I. Gorgasali eingeschlagen hatte, und hat ab dem 6. Jh. n. Chr., gleich der byzantinischen orthodoxen Kirche, die Seite der Chalkedoniten angenommen. Kartlien befürwortete offiziell die antimonophysitische Politik. Ein Anhänger der prowestlichen Politik war auch das westgeorgische Königreich Lasika. Der König von Lasika Gubas wurde von den Byzantinern ermordet. Die Adligen mussten sich jetzt entscheiden, wessen Seite sie annehmen wollten – des Iran oder der Byzanz, die ihren König hatte ermorden lassen. Vertreter der beiden Seiten hatten feste Argumente. Es ist merkwürdig, dass die probyzantinische Seite siegte. Die ganze politische Elite folgte ihr. Das Argument war einfach – die Byzanz ist christlich und das ist das Wichtigste für die georgische Identität. So führte Georgien im 6. Jh. n. Chr. nach wie vor die westliche, das heißt die christliche Politik durch.
Ab dem 8. Jh. entstanden neue europäische Staaten – der Fränkische und der Sächsische. Beda Venerabilis schrieb zu der Zeit die Geschichte Englands, „Historia ecclesiastica gentis Anglorum“ („Kirchengeschichte des englischen Volkes“). Der Prozess der Christianisierung Europas hatte seinen Anfang genommen. Vom 6.-7. Jh. verbreitete sich das Christentum unter Angelsachsen. Im 7. Jh. bekehrten sich Serben und Kroaten zum Christentum. Slawische Völker wurden durch die Christianisierung in die europäische Familie aufgenommen. Im 9. Jh. übernahmen und leiteten zwei Brüder, Kyrill und Method, die christliche Missionierung slawischer Völker. Sie arbeiteten die slawische Schrift „Glagoliza“ aus, übersetzten das Buch der Psalmen, das Euchologion, das Alte und das Neue Testament ins Slawische. Sie evangelisierten Bulgarien (861), später auch das Mährerreich (gelegen im heutigen Tschechien und der Slowakei). Im 10 Jh. wurden Isländer und Russen zum Christentum bekehrt. Im 11. Jh. Ungarn, Polen, Norwegen und Schweden. Europäer befreiten die Pyrenäenhalbinsel von Muslimen. Ab dem 11. Jh. waren Christen in Spanien stärker vertreten.
In den Handschriften vom 9.-10. Jh. erscheint der Begriff Europa. Es ist nicht nur eine geografische Bezeichnung, sondern wird auch im Sinne der Vereinigung gebraucht, was nach der Evangelisierung Europas deutlich wird. Europa bekommt eine neue Bedeutung. Diese Bedeutung wird von Christlichkeit geprägt, welche die Zugehörigkeit zur christlichen Welt beinhaltet. Als Grundlage der Entstehung Europas wurde die Einheit der christlichen Wertesysteme und der Weltanschauung, das Glaubensbekenntnis gelegt. Zu derselben Zeit vereinten sich Ost- und Westgeorgien zu einem Staat – Georgien. Auch dieser Terminus wird im weiteren Sinne gebraucht und ist als eine Einheit zu verstehen, so wie im Falle Europas. In Europa wie auch in Georgien spielt die Kirche im Prozess der Konsolidierung eine wichtige Rolle.
Das Große Schisma 1054 führte zur Spaltung des einheitlichen christlichen Körpers. Neben den theologischen und dogmatischen Unterschieden waren in dieser Trennung auch politische Faktoren entscheidend. In der Herrschaft des Papstes verstärkte sich das politische Element. Die Byzanz war darüber empört, dass der Papst Karl den Großen zum Kaiser salbte. Das bedeutete, dass der Westen den byzantinischen Kaiser in Konstantinopel nicht mehr als einen römischen Kaiser betrachtete. Dies brachte Auseinandersetzungen zwischen östlichen und westlichen Kirchen mit sich und endete damit, dass der Patriarch von Konstantinopel, Michael I. Kerullarios, und Papst Leo IX. sich gegenseitig exkommunizierten.
Ende des 11. Jh. n. Chr. fand in Europa eine Reformbewegung statt, die uns unter dem Namen Gregorianische Bewegung bekannt ist. Sie veränderte die Kirche und das christliche Europa. Die Reform war als Befreiungsbewegung der Kirche gegen die Intervention seitens der Zivilregierung gedacht.
In Georgien spielten sich in diesem Zeitraum andere Prozesse ab als in Europa. Der georgische König David IV. der Erbauer arbeitete im Gegensatz zu europäischen Monarchen aktiv und eng mit der Kirche zusammen. Sein Denken war durch das Christentum geprägt. Er versuchte, die geistlichen Oberhäupter an der Regierung des Staates zu beteiligen. Um das zu erreichen vereinte er zwei große Ämter – ein geistliches und ein weltliches – zu einem. Der Amtsmann musste ein Mönch sein. Er wurde nach dem König zur zweitwichtigsten Person ernannt, zu einem Exekutivbeamten, einer Art Ministerpräsidenten. Wenn sich in diesem Zeitraum in Europa die Kirche von der Zivilregierung absonderte und loslöste, näherte sich in Georgien die Kirche dem Staat immer mehr an. Die Geistlichen spielten eine wichtige Rolle im Staat. Das geistliche und das weltliche Denken ist miteinander verschmolzen.
Im 12. Jh. haben sich in Europa verschiedene kreative Prozesse abgespielt. Das Christentum förderte die rasende Entwicklung der Wissenschaft und der Kunst, aber gleichzeitig veränderte sich auch die Mentalität. In der christlichen Kunst wird die Rolle des Menschen enorm erhöht, was dem Menschen Autonomie gewährt und ihn von Gott unabhängig werden lässt.
Im 13. Jh. formierte sich das europäische Selbstbewusstsein endgültig. Bildungszentren sind nach und nach von den Klöstern in den weltlichen Raum übertragen worden. So wurden erste Universitäten in Bologna, Paris, Oxford, Cambridge, Montpellier gegründet. Europa wählte den Weg der Säkularisierung. Die Universitäten verliehen nun den Magistergrad der Theologie nach elfjährigem Studium. Er wurde vom Staat und nicht von der Kirche verliehen. Auch in Georgien wurden, in derselben Zeit wie in Europa, Hochschulen – die Akademien von Gelati und von Iqalto – gegründet. Diese Bildungszentren sind aber, im Gegensatz zu Europa, nicht in den weltlichen Bereich übertragen, sondern als Klöster belassen worden. Italien, das zu einem Zentrum der Renaissance und des Humanismus wurde, erweckte im 14.-15 Jh. im europäischen Raum ein besonderes Interesse. Renaissance in Florenz war beispielgebend für das ganze Europa. Berühmte Kaufleute und Bankiers, darunter eine der einflussreichsten Familien, Medici, haben die Entwicklung der europäischen Renaissance in der Stadt stark gefördert. Die Philosophie des Zeitalters der Renaissance – Humanismus – ersetzte den Theozentrismus durch Anthropozentrismus. Es stellte den Menschen über Gott und machte ihn zum Zentrum der Welt. Die Renaissance veränderte das Maß. Bis dahin galt das Christentum als Höchstwert, von nun an stellte der Mensch das vollendete Bild Gottes dar. Die Epoche der Renaissance orientierte sich an der sichtbaren, materiellen Welt. In der Renaissance wurde die Bildung zum Selbstzweck; aber Wissen ohne Glauben ist gefährlich. Das Wissen ist eine bestimmte Methode, die vom menschlichen Verstand gesehenen Ereignisse zu systematisieren. Wahre Bildung ist durch die Einigkeit des Verstandes und des Herzens zu erreichen. Daran mangelte es im Zeitalter der Renaissance.
Im 17.-18. Jh. erlebt Europa ein Zeitalter der Revolutionen. Von diesem Zeitraum an spüren die europäischen Staaten die Angehörigkeit zu einer Kultur. Die Idee des Nationalismus in Europa unterscheidet sich von der gleichen Idee in Georgien. Unter Nationalismus meinen wir hier die Konsolidierung der ganzen Gesellschaft um ein gemeinsames Ziel. Unterschiedlich ist aber die Art, wie Georgier und Europäer sich um ein Ziel vereinen und konsolidieren. Die Volksaufstände in Georgien unterscheiden sich von den Revolutionen in Europa. In Ländern, in denen die Nationen entstanden, in England und Frankreich, begann die Selbstbestätigung des Volkes mit Gegenüberstellungen, gewaltsamer Entthronung der Könige und Mord. Die Rebellion begann dort in Europa, wo man Gott nicht mehr über den Menschen gestellt hatte. Da geschahen Revolutionen, denen vom Volk und der Elite gehuldigt wurde. Die Herrscher wurden hingerichtet und die Fantasie der Hinrichtenden kannte keine Grenzen. Es wurden neueste Methoden der Hinrichtung erfunden. Im Gegensatz dazu waren die Volksaufstände in Georgien nicht gegen den königlichen Herrscher gerichtet, sondern zielten auf die Wiederherstellung des königlichen Regimentes ab. Das Volk forderte, der Thron möge wieder an die Bagratiden-Dynastie fallen. Der Grund dafür war die göttliche Herkunft des Herrschergeschlechtes. Das Herrscherhaus der Bagratiden hatte eine besonders große und wichtige Rolle in der Geschichte der georgischen Staatlichkeit gespielt. Bagratiden und Georgien sind zwei untrennbare Begriffe. Das Herrscherhaus hatte die Funktion des ethnischen Merkmals übernommen. Die Bagratiden stammen nach der georgischen historiographischen Tradition von Propheten David ab. Deswegen verursachte die Auflösung ihrer Regierung negative Ereignisse. Es war ein starkes Herrschergeschlecht, welches so lange (6. -18.) regiert hatte wie keine Dynastie in Europa.
Nach der russischen Besetzung im 19. Jh. trennte sich Georgien vollständig von der europäischen intellektuellen Kunst. Georgien brach den Kontakt mit sich selbst, mit den Werten ab und gab die Suche nach dem “Ich“ auf. Meines Erachtens ist der Prozess immer noch im Gang. Wir haben einen eigenen Weg der Entwicklung, die das georgische Paradigma bestimmt. Georgische Einigkeit muss zum natürlichen Weg der Entwicklung zurückfinden. Sie muss die wichtigsten Merkmale der eigenen Wertsysteme wiederherstellen, von denen das wichtigste das Christentum ist. Heute ist unser Streben nach Europa ein Streben nach christlichen Werten. Die Beziehungen halten fest, wenn die Grundlage ein Wertesystem ist. Unsere europäische Wahl soll, wie immer, in erster Linie auf den richtigen christlichen Werten beruhen und nicht nur auf den politischen Argumenten. Unsere Beziehungen mit Europa werden viel enger und unwiderruflich werden, nachdem Europa zu christlichen Glauben und Werten zurückgefunden hat. Die heutige Konferenz ist ein gutes Beispiel dafür.