Die Sorge für die Seele – Worauf es in Europa heute ankommt
Der Ausdruck „Sorge für die Seele“ kommt uns, Christen, irgendwie bekannt vor. Wir kennen ja z.B. den Ausdruck „Seelsorge“ und können ihn mehr oder weniger genau beschreiben. Wir wissen auch, dass die Priester, die mit der „Seelsorge“ beauftragt sind, als „Seelsorger“ bezeichnet werden.
In Betracht dieser (absolut legitimen und gut verständlichen) christlichen Konnotationen des Ausdruckes „Sorge für die Seele“ in der Wahrnehmung des heutigen Europäers gilt es zu betonen, dass der Ausdruck „die Sorge für die Seele“ ursprünglich eine Übersetzung aus dem Altgriechischen ist und dass der ursprüngliche altgriechische Ausdruck „epimeleia tés psychés“ eine lange und für die geistige Gestaltung Europas entscheidende Bedeutung hat. Europa im geistigen Sinne ist nämlich – wie der tschechische Philosoph und Mitbegründer der Menschenrechtsbewegung Charta 77 Jan Patočka in seinen späten Werken eindrücklich darlegte – aus der Sorge für die Seele entstanden. Die Sorge für die Seele stellt laut Patočka das geistige Fundament Europas im Sinne eines geistigen Erbes dar, welches sich durch zwei große geschichtliche Katastrophen bewahrte und verallgemeinert wurde. Die erste Katastrophe war der Zusammenbruch der griechischen Polis im ausgehenden 4. Jahrhundert vor Christus; die zweite Katastrophe war die Auflösung des Römischen Reiches. Dieses Erbe wird im Zusammenhang dieser geschichtlichen Umbrüche verwandelt und nimmt neue historische Formen an. Patočka unterscheidet ausdrücklich drei Formen der Sorge für die Seele: die sokratisch-platonische, die stoische und die christliche.
Die sokratische Sorge für die Seele wird unnachahmlich in Platons Dialogen dargestellt, vor allem in den so genannten „früheren Dialogen“, in denen ihr Protagonist, Sokrates, noch viele charakteristische Züge des „historischen Sokrates“, d.h. des Sokrates als real existierende historische Figur, in sich trägt. Die platonische Sorge für die Seele, die ihrerseits eine Weiterentwicklung der sokratischen Version derselben darstellt, ist laut Patočkas Darstellungen auf der Entdeckung eines neuen Ideals der philosophischen Erkenntnis begründet. Im Zentrum dieses neuen epistemologischen Ideals steht die Erkenntnis als episteme, d. h. eine unumstößliche, apodiktische Erkenntnis, die jeder Prüfung durch dialektische Unterredung standhält. Wenn die Suche nach der episteme zur eigentlichen Aufgabe des menschlichen Lebens wird, geschieht mit der menschlichen Seele etwas Sonderbares: Indem sie nach dem immer gleich Bleibenden, klar Umrissenen strebt, wird sie selber zu etwas, das klar umrissen und mit sich selbst identisch ist. Die Grundhaltung des forschenden Suchens, die sie eingenommen hat, und die sie im Rahmen des menschlich Möglichen aufrechtzuerhalten sucht, gibt ihr eine klare und einheitliche Gestalt. Die Seele befreit sich dadurch von ihrem ursprünglichen Zustand, der durch Vielheit und Zwietracht der sich oft widersprechenden Meinungen und ihrer oft gegeneinander strebenden Interessen und Tendenzen gekennzeichnet ist. So führt das beharrliche Erkenntnisstreben zu einer geistigen Erneuerung und Festigung der Seele. Die so aufgefasste Sorge für die Seele erscheint laut Patočka in drei verschiedenen Zusammenhängen des platonischen Philosophierens.
Erstens findet sie ihren Ausdruck in Platons onto-kosmologischem Entwurf. In ihm erscheint die Seele als ein Mittelwesen und als ein Vermittler zwischen dem sinnlichen und dem intelligiblen Seinsbereich. Sie erscheint also als ein Seiendes, das sich zwischen diesen zwei Bereichen auf- und abwärts bewegt und die Quelle seiner Bewegung in sich selbst hat.
Die Sorge für die Seele drückt sich zweitens in Platons politischer Philosophie aus. Patočka bezeichnet sie sehr prägnant als eine Theorie des Staates, in dem der Philosoph nicht sterben muss, d. h. eines Staates der Gerechtigkeit und geistigen Autorität. Nur in einem solchen Staat wird der für die Seele sorgende Philosoph in keinen Konflikt mit der politischen Macht geraten. Der Aufriss eines solchen Staates in der Politeia führt durch die Analogie zwischen polis und psyche zu einer Seelenlehre, die im Vergleich zu der Auffassung der Seele als Mittelwesen psychologisch differenzierter ist. Die Seele hat nach dieser wohlbekannten Lehre drei Teile: den vernünftigen, den geistig-affektiven und den begehrlichen Seelenteil. Die Aufgabe der Erziehung, die in der Politeia ausführlich diskutiert wird, ist es, die zwischen den drei Seelenteilen herrschenden Spannungen zu mildern und die Seele unter der Herrschaft des höchsten Seelenteils zu vereinen und zu disziplinieren.
Der dritte Zusammenhang, in dem die Sorge für die Seele in Platons Werk erscheint, betrifft die Seele in ihrer Beziehung zu sich selbst, zum Leib und zu ihrem Schicksal nach dem Tode. Die für sich selbst sorgende Seele entdeckt zwei Grundmöglichkeiten ihres Daseins: Entweder kann sie sich selbst vernachlässigen und sich dadurch in der sinnlichen Welt verlieren, oder sie kann sich selbst durch fragendes Denken und durch Prüfung der eigenen Überzeugungen zu einer wahren Gestalt formen. Beide Möglichkeiten stellen eine spezifische Bewegung der Seele dar. Die eine Bewegung führt zum Seinsverlust, die andere zum Seinszuwachs der Seele. Die Bewegung auf das intelligible Sein hin lässt die Seele hoffen, diesem Sein, das unvergänglich ist, so ähnlich wie möglich zu werden, und dadurch Unsterblichkeit zu erlangen.
In diesen drei Ausgestaltungen, d. h. 1) in der Seelenmetaphysik, 2) in der Philosophie des Staates der Gerechtigkeit und geistiger Autorität, und 3) in der Eschatologie der unsterblichen Seele, ist laut Patočka die platonische Sorge für die Seele zum geistigen Fundament Europas geworden.
Für Patočka beginnt die geistige Krise Europas mit der tiefgehenden Veränderung des geistigen Stils, der mit anbrechender Renaissance sich allmählich konstituiert und sich dann mit der Neuzeit voll durchsetzt. Patočka nennt ihn, um ihn ausdrücklich von dem geistigen Stil der Sorge für die Seele zu unterscheiden, als „Sorge für die Welt“. Gemeint ist die äußere Welt, der sich der neuzeitliche Mensch zuwendet, um sich ihrer zu bemächtigen. Nicht mehr die Seele und ihr ewiges Heil, sondern die Reichtümer dieser Welt, ihre Ausbeutung und Ausnutzung, werden zu dem obersten Ziel des neuzeitlichen Menschen. Im intellektuellen Bereich drückt sich dieser neue geistige Stil in der neuen Auffassung der Wissenschaft aus. Seit Bacon wird die Wissenschaft nicht mehr in ihrem antiken und mittelalterlichen Sinn als in der Kontemplation ewigen Seins gipfelnde Suche nach der Weisheit, sondern als Macht verstanden. Auf ihrer Basis entsteht die Technik einer völlig neuen Art und Potenz, zu der es kein Pendant in der Antike und im Mittelalter gab. Diese Technik kann wunderbare Dinge leisten, sie kann aber auch die ganze Welt zerstören. Darin wird die radikale Grenze der modernen wissenschaftlichen Rationalität und der aus ihr erwachsenen technischen Rationalität sichtbar. Sie ist, wie Patočka es ausdrückt, eine bloße „Rationalität der Mittel“, d. h. sie ist lediglich mit der Optimalisierung der Mittel des menschlichen Lebens befasst und nur in diesem Bereich erfolgreich einsetzbar. Für die Untersuchung der Ziele des Lebens, und somit für die Reflexion des Guten, ist sie nicht kompetent. Die Kultur des neuzeitlichen und modernen Europas ist durch diese Verengung der Vernunft auf bloße „Rationalität der Mittel“ aus dem Gleichgewicht geraten, welches die ältere europäische Kultur kennzeichnete. Das Gleichgewicht zwischen der Rationalität der Mittel und der Rationalität der Ziele war aber gerade für den geistigen Stil der Sorge für die Seele charakteristisch. Solange die europäische Kultur imstande war, die innere Spannung zwischen diesen beiden auseinanderstrebenden Formen der Rationalität auszuhalten und sie in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten, war sie geistig gesund. Der Verlust dieses Gleichgewichts führte zu der geistig-kulturellen Krise Europas in der Neuzeit und der Moderne. Aus dieser Krisendiagnose Patočkas folgt, dass wir im Zeitalter der modernen Wissenschaft und der Technik wieder zu der Sorge für die Seele zurückfinden müssen. In der Aufforderung zu der Wiederkehr zu dem geistigen Stil der Sorge für die Seele besteht daher eine der aktuellsten Botschaften des Prager Philosophen: Die Sorge für die Seele ist das, worauf es in Europa heute ankommt.
Martin Cajthaml ist Direktor des Instituts der Philosophie und Patrologie an der Theologischen Fakultät der Palacky Universität Olmütz (Olomouc). Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, Platon und Platonismus, Philosophischer Relativismus, Philosophischer Realismus, Geistige Wurzel Europas. Für das Professorenforum hielt er einen Vortrag zu „Die griechische und christliche Sorge für die Seele“ anläßlich des Symposiums Christliche Ethik und Gegenwart, Veranstalter: Ivane Javakhishvili Tbilisi State University, Tiflis, 5.-6.10. 2011.