Wirtschaftswissenschaften

Die europäische Finanzkrise: Einige Reflexionen

Prof. Prabhu Guptara · 
15.07.2010

Die direkten Ursachen der gegenwärtigen europäischen Krise liegen nicht in Europa, sondern beim wirtschaftlichen und kulturellen Führer der Welt – den USA – obwohl es Europas Schuld war, dieser Führung freiwillig zu folgen:

– erstens hoben die USA in 1999 das Glass-Steagall-Gesetz auf und erlaubten damit den Finanzinstituten Glücksspiele nicht nur mit dem Geld der Reichen (wie es bis dahin der Fall war), sondern auch mit dem Geld von gewöhnlichen Leuten, Kommunen und Nationen;

– zweitens weigerten sich die USA, Großgeschäfte („big deals“) zu registrieren und erlaubten, diese Geschäfte mit der Möglichkeit unbegrenzter Schuldenfinanzierung („leverage“) zu kombinieren. Dies führte zu einer „Schatten- (oder „schwarzen“) Wirtschaft, die unglaublich explodierte: der Wert aller Güter und Dienstleistungen, die im Welt- Bruttoinlandsprodukt (GDP) produziert werden, liegt bei 60 Trillionen US$, aber die konservativste Schätzung der Größe der Schattenwirtschaft zu Beginn der Krise war 610 Trillionen, die autoritativste Schätzung war jedoch 1200 Trillionen (BIS), während die höchste Schätzung von Experten, die mir bekannt wurde, 1440 Trillionen betrug. Da es sich aber um einen „Schatten“ handelt, wer weiß? Und wer weiß, wo die Auswirkungen dieses Schattens ihren nächsten Ausbruch hervorbringen? Daher kommt es zu unerwarteten Explosionen an unterschiedlichen Orten, sei es Lehmann Brothers oder Goldman Sachs oder Island oder Griechenland. Daher haben wir die gegenwärtigen Diskussionen über „Neu- Regulierung“ („re-regulation“), und es fragt sich: werden die neuen Regulationen die richtigen sein, werden sie ausreichen, werden sie nicht unnötig lästig sein? Nebenbei gesagt, viele Leute (ich selbst eingeschlossen) haben seit 1990 über diese Dinge geschrieben und gesprochen, aber wer wollte es hören?

Die tieferen Ursachen der Krise sind jedoch spiritueller, politischer und kultureller Natur. Zu ihnen gehört die in den 1980er Jahren im Namen von Produktivität, Modernität und Fortschritt getroffene Entscheidung, die Reichen zu privilegieren anstatt zugunsten der Armen gerecht zu handeln. Der gesamte mögliche Gewinn fiel den Kapitalgebern zu, es gab keine realen Lohnerhöhungen für Arbeiter, während ihnen die Illusion größerer Kaufkraft gegeben wurde, indem man eine Blase in der Verfügbarkeit und im Preis von Hausbesitz schuf und es den Menschen leicht machte, sich dafür zu verschulden – mit anderen Worten, durch Bereitstellung von Krediten/Anleihen, die die Menschen ermutigten, mehr zu verbrauchen als sie tatsächlich verdienten, und sie zugleich überredete, dass Gier gut sei, dass eine Gesellschaft nicht wirklich existiert, dass das Problem die Regierung sei, dass das Fehlen von Regeln die Wirtschaft leichter zum Blühen bringe, und dass das Eingehen großer Risiken wünschenswert sei (mit Parolen wie „kein Risiko, kein Spass“ – „no risk, no fun“ und „kein Schmerz, kein Gewinn“ – „no pain, no gain“). Dieses hochriskante politische und kulturelle Glücksspiel funktionierte extrem gut für etwa drei Jahrzehnte ab 1980 (und besonders nach dem Fall der Berliner Mauer) und produzierte mehr scheinbaren Reichtum als die Welt in ihrer ganzen Weltgeschichte davor je gesehen hatte. Aber als die Konsequenzen dieses Systems schließlich zuschlugen, produzierte es schon bis jetzt den zweitgrößten ökonomischen Kollaps der Geschichte – und wir sind noch bei weitem nicht dem Ende der Krise nahe (alles, was geschah ist, dass ein „Fußboden“ unter die Krise gezogen wurde in Gestalt der Milliarden Dollar, die von den Regierungen als heraushelfende Bürgschaften (bailouts) bereitgestellt wurden, und das Schlimmste mag noch kommen, weil die Regierungen nun selbst dem Bankrott nahe sind, während die Schaffung des „Fußbodens“ die Aufblähung des finanziellen Schattensystems verstärkt hat. Mit anderen Worten, die Regierungen könnten außerstande sein, irgend etwas gegen die kommenden Konsequenzen zu tun ohne selbst im Bankrott zu enden. Zum Beispiel muss es sich noch zeigen, ob die EU-Regierungen imstande sein werden, die vorgeschlagenen 440 Milliarden Euro für die neue Förderfirma für europäische finanzielle Stabilität aufzubringen.

Was sollen wir also über den gegenwärtigen Umgang mit der Krise sagen?

1. Wirkliche Lösungen müssen installiert werden:

a. diejenigen, über die bereits nachgedacht wird (wie die Überprüfung der Anreiz- und Vergütungssysteme in großen Firmen, die Schaffung von Transparenz durch Registrierung aller Geschäftsvorgänge (deals), die Volcker-Regel, die das Glass- Steagall-Gesetz effektiv reinstallieren würde, das Verbot von Leerverkäufen („naked short selling“) oder Spekulation, Elimination des Schutzsyndroms für große Firmen, die angeblich zu groß sind, um sie scheitern zu lassen („too big to fail“ syndrome) , und die Einführung von Banksteuern (mindestens in der EU, doch idealerweise global); und

b. diejenigen, die noch nicht ernst genommen werden (antizyklische Beschaffung, komplementäre Währungen, Transparenz der Regierungsfinanzen).

Man beachte, dass die derzeit laufenden „Rettungspakete“ die Durchschnittsperson weiter schädigen: David Cameron, der Premierminister des Vereinigten Königreichs, startete gerade heute (Montag 7. Juni) eine Campagne zur Vorbereitung Britanniens auf eine Ära des „Schmerzes im öffentlichen Sektor“ („public sector pain“), in der Hoffung, den Boden zu bereiten für Entscheidungen mit „Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft – tatsächlich unsere ganze Lebensweise“; ein angemessenes Rettungspaket würde stattdessen (oder in Ergänzung hierzu) eine Besteuerung der Reichen wieder einführen. Diesen Punkt in Angriff zu nehmen und der Krise wirklich entgegen zu treten wird eine spirituelle und kulturelle Transformation erfordern.

2. Der beste Weg nach vorne für die europäische (wie auch die globale) Wirtschaft ist durch globale Regeln zu verwirklichen, die die Schaffung eines wirklich freien Marktes rund um die Welt ermöglichen: Besteuerung des kommerziellen Rundfunks großer und kleiner Reichweite (broadcasting and narrowcasting), um dem dem öffentlichen Interesse dienenden Rundfunk großer und kleiner Reichweite zu ermöglichen, die ihm angemessene Rolle zu spielen, ein Forschungsverbot für private Firmen, sodass alles geistige Eigentum der Öffentlichkeit gehört, keine Subventionen irgend einer Regierung für irgend eine Aktivität, Mindestlohn für Arbeiter überall in der Welt, Mindeststandards für Gesundheit, Sicherheit, Pensionen und Umweltschutz, und ein garantierter Mindest-Lebensstandard für jedermann in der Welt (zwei Garnituren Kleidung, eine reichliche Mahlzeit pro Tag, Mindestwohnraum, der für das Wetter angemessen ist, Mindestbildung für Kinder und minimale Gesundheitsversorgung). Statt der gegenwärtigen Neigung der Weltwirtschaft zu den Teilen der Welt, die keine angemessenen Standards haben (z.B. für Umwelt, Gesundheit und Sicherheit), würden solche globalen Regeln ein Spielfeld auf globaler Ebene eröffnen, in welchem wirklich freier Wettbewerb über Nationengrenzen hinweg möglich ist – in Landwirtschaft, industrieller Produktion, Robotik und anderen innovativen und kreativen Technologien, die uns befähigen könnten, globale Armut, die Krankheiten der Armen, die Langeweile des durchschnittlichen Arbeiters und die Anomalie der Reichen anzugehen.

Prabhu Guptara ist Distinguished Professor of Global Business, Management und Public Policy, William Carey University, India; und Executive Director, Organisation Development, bei einer der größten Banken der Welt. Von seiner Basis in der Schweiz aus operiert er weltweit.

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