Unerwartet für das Publikum des Kongresses christlicher Führungskräfte in Nürnberg im Februar 2011 thematisierte der indische Volkswirtschaftler Prabhu Guptara in seinem Plenumsvortrag „Unternehmen als Wertelieferanten“ diese Frage: Warum wurde Zentraleuropa, das bis ins 16. Jh. einer der ärmsten Erdteile war, im 19. Jh. zu einem der reichsten der Erde? Seine Antwort:
Einer der Schlüsselfaktoren war die Reformation, die eine an den Werten der Bibel orientierte Kultur schuf, in der eine ehrliche Qualitätsleistung im Austausch für einen angemessenen Profit gefordert wird. … Die Wirtschaftsethik der Reformation wurde jedoch unterminiert, als der Darwinismus zur Speerspitze der Gottlosigkeit wurde: Ab 1880 zuerst in elitären Kreisen in Europa; verzögert danach etwa seit 1930 in den USA. Nach dem zweiten Weltkrieg dann durch die systematische Indoktrination von Millionen von Menschen im gesamten westlichen Raum. Deshalb reden wir heute von Raubtierkapitalismus: der Stärkere verdrängt den Schwächeren – ganz im Sinne von Darwins Evolutionstheorie.[1]
Manchmal müssen Vertreter anderer Kulturen uns unsere Stärken und Vorzüge aufzeigen, wenn wir sie zu vergessen drohen. Ein Blick auf andere ältere Kulturen und ihre Einstellung zur Arbeit ist hier aufschlussreich:
Im Alten China betätigten sich höher gestellte Bürger in der Staatsbürokratie; handwerkliche Arbeit und Landbau überließ man gern den niederen Schichten. Entsprechend sah China über viele Jahrhunderte kaum einen technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt. Ähnliches gilt auch für Indien. In den arabischen Kulturen wurden wirtschaftliche Gewinne weniger aus harter Arbeit erzielt als vielmehr durch klugen und geschickten Handel. Die pointierteste Verachtung der Handarbeit findet sich jedoch in der von der Philosophie der Aufklärung so verehrten griechischen und römischen Antike:
Im vorchristlichen Athen kamen teilweise fünf Sklaven auf einen freien Bürger, der im Rat saß, politisierte und philosophierte und die Arbeit mit den Händen verachtete.
Marcus Tullius Cicero äußerte unverhohlen seine Abneigung gegen Arbeiter: Ordinär ist der Lebensunterhalt des gedungenen Arbeiters, den wir für bloße Arbeit mit den Händen ausbezahlen. Alle Handwerker haben ein ordinäres Gewerbe.[2] Der Reichtum Athens und Roms ruhte auf dem Rücken von Sklaven und dem Raub aus den Eroberungskriegen.
Ganz anders verhielten sich die von der hebräischen Kultur inspirierten Christen:
Der zum hohen geistigen Dienst der Lehre und Predigt berufene Paulus war sich nicht zu schade, auf seinen Reisen vom erlernten Handwerk des Zeltmachers zu leben, statt seinen Lebensunterhalt von den gegründeten Gemeinden einzufordern: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (2.Thess. 3,10) war sein Motto. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern schaffe etwas Gutes mit seinen Händen, damit er auch dem Bedürftigen noch abgeben kann“ riet er den Ephesern zur Resozialisierung von Straffälligen (Eph. 4,28). Handarbeit war für die ersten Christen im Kontrast zu ihrer Umwelt eine ehrenhafte Tätigkeit.
Mit der Wiederentdeckung der griechischen Philosophen und ihrer Lehren durch die Kirchenväter geriet die Arbeit jedoch bald wieder ins Hintertreffen und die eindeutigen Aussagen der Gründer in Vergessenheit: Der „geistliche Stand“ der Priester und kirchlichen Würdenträger erhob sich über den „weltlichen Stand“ der Arbeiter und Handwerker und teilte die Menschen wieder auf in Klassen mit unterschiedlichem Wertestufen. Die Veränderungskraft des christlichen Evangeliums war wirksam erstickt.
Es bedurfte der Mönche mit ihren Erneuerungsbewegungen und Gegenentwürfen zur etablierten Kirche, um den Lehren und Werten der Gründer wieder zum Durchbruch zu verhelfen: Benedict von Nursia rehabilitierte mit seinem Motto: ora et labora (bete und arbeite) die Arbeit und stellte sie auf eine Stufe mit dem Gebet. Noch deutlicher der Reformator Martin Luther: „Ackerpflügen oder Windelwaschen ist genauso Gottesdienst wie Beten oder Predigen.“ Schließlich war es auch Luther, der als erster von den Fürsten eine allgemeine Schulpflicht für alle Kinder forderte. Die Bildung hatte aus ihm, dem Sohn eines Bergmannes, einen geistigen Erneuerer der Nation gemacht.
In seinem Abriss der Geschichte der Technik der neueren Zeit: „Der Weg aus der Tretmühle“ durchmisst der Ingenieur Franz Hendrichs sehr anschaulich und detailliert die Leistungen des gesamten europäisch-amerikanischen Kulturkreises auf technischem Gebiet. Auch Hendrichs fällt auf, dass viele Vertreter der reinen Geisteswissenschaft eher verächtlich auf Ingenieure und Techniker herabschauen.
Dazu veranlasst sie ihre in der Antike wurzelnde Einstellung der Geringschätzung körperlicher Arbeit.[3] Weiter stellt Hendrichs fest:
Gerade die größten Vertreter von Naturwissenschaft und Technik, die zugleich die bescheidensten waren, haben erkannt, dass Wissen und Glauben sich nicht ausschließen, sondern sehr wohl nebeneinander bestehen können (…). Männer wie Kepler, Newton, Guericke, Leibnitz, Watt, Faraday, Gauss, und Max Planck waren von tiefer Religiosität durchdrungen.[4]
Die Verantwortung vor dem Schöpfer motivierte sie, die Natur zu erforschen und nutzbar zu machen; die Verantwortung vor dem Mitmenschen als Ebenbild Gottes trieb sie zu Erfindungen, die menschenunwürdige Arbeitsbedingungen ablösten. Hendrichs sieht jedoch deutlich am Wege des Ingenieurs auch die Gefahr des Irrglaubens an die Allmacht des Wissens und den verfehlten Versuch der Selbsterlösung durch die Technik stehen.[5]
Die sture Fortsetzung dieses Irrglaubens droht uns heute in den selbst konstruierten Abgrund der Überarbeitung zu stürzen. Indem wir unser eigenes Wissen und unsere Leistung vergöttern, werden wir zum Sklaven unserer Arbeit. Und die von Gott und seinen Ordnungen (z. B. ein Ruhetag in der Woche) losgelöste Arbeit ist ein grausamer Sklavenhalter. Laut dem Gallup-Engagement Index 2010 weisen 21% der 2.000 befragten Arbeitnehmer keine emotionale Bindung an ihr Unternehmen auf. Sie verhalten sich am Arbeitsplatz destruktiv und demotiviert und schwächen somit die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Firma. Die große Mehrheit (66%) weist eine geringe emotionale Bindung auf, leistet quasi nur “Dienst nach Vorschrift”. Der volkswirtschaftliche Schaden daraus wird auf rund 120 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. (IPA, 17.02.2011) Andere Schätzungen liegen sogar bei 250 Mrd. Was haben wir mit der Arbeit gemacht?
Wenn das Focus Magazin seine Ausgabe Nr.10/ 2010 „Die Burnout-Gesellschaft“, der Spiegel seine Ausgabe Nr.4/ 2011 „Ausgebrannt“ tituliert und der Gründungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivmedizin, Gerd Schnack den Arbeitsplatz als „größten Vernichter der Arbeitskraft“ bezeichnet, dann haben wir das Ergebnis dieses Irrweges vor unseren Augen. Die Arbeit, die uns unter der Verantwortung vor Gott Segen und Wohlstand brachte, wird mit der Loslösung von Gott zum Götzen, der uns Fluch und Selbstzerstörung bereitet.
Prof. Dr. Gerd Schnack und seine Ehefrau, Dr. Kirsten Schnack gehen pionierhafte Wege, um auf der Grundlage des christlichen Menschen- und Arbeitsverständnisses unter Einbeziehung der Spiritualität präventiv und therapeutisch zu einem heilsamen Verhältnis zur Arbeit zu verhelfen (Literatur- und Kursangebote finden Sie hier: www.praeventionszentrum.com).
„Das Schönste am christlichen Glauben“ schreibt der amerikanische Psychoanalytiker Scott Peck „ist sein Sündenverständnis.“[6] Götzendienst war zu allen Zeiten eine folgenschwere Sünde. Durch den Tod Christi am Kreuz ist Sünde aber nicht mehr das Problem. Die entscheidende Frage ist: Beharren wir in unserem Irrtum, oder kehren wir um? Die Chance dieser Umkehr ist das große Angebot des christlichen Evangeliums. Damit öffnet es aus der verfahrensten Lage einen Weg in die Zukunft. Gerade für die Arbeit.
Fußnoten
[1] Prabhu Guptara: Unternehmen als Wertelieferanten. Vortrag auf dem Kongress christlicher Führungskräfte, Februar 2011.
[2] de officiis 1, 150
[3] Hendrichs, Franz: Der Weg aus der Tretmühle, VDI Verlag, 1955 u.1966, S. 226
[4] Ebd.
[5] Ebd.