Philosophie

Der Mythos der Aufklärung Teil 1: Eigenlob stinkt

Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter · 
17.02.2014

Eigenlob stinkt. Das weiß der unverbildete Mensch, doch der Bildungsbürger vergißt dies gerne – zumindest wenn es um „die Aufklärung“ geht. Damit wären wir schon bei meinem ersten Einwand gegen die Aufklärung und gegen den Begriff der Aufklärung.

Zusammenfassung: In diesem und einigen weiteren Artikeln werde ich folgende These über „die Aufklärung“ vertreten: Der Begriff „Aufklärung“ wurde von Gegnern des Christentums erfunden, um den Eindruck zu erwecken, die Christen seien naiv und intolerant, und im 18. Jahrhundert sei dagegen schließlich langsam die Vernunft zur Geltung gebracht worden, was zur Entstehung der Naturwissenschaft, zu Fortschritten in der Philosophie und zur Religions- und Meinungsfreiheit geführt habe. Die sich selbst als „Aufklärer“ Bezeichnenden wollten sich als epochemachend stilisieren. Die angeblichen Errungenschaften der Aufklärung wurden größtenteils von anderen errungen. In dieser ersten Folge wird die Grundstrategie der Aufklärung und die Diskrepanz zwischen dem Inhalt und dem Umfang des Aufklärungsbegriffes dargestellt.

1 „Aufklärung“ als taktischer Begriff

Eigenlob stinkt. Das weiß der unverbildete Mensch, doch der Bildungsbürger vergißt dies gerne – zumindest wenn es um „die Aufklärung“ geht. Damit wären wir schon bei meinem ersten Einwand gegen die Aufklärung und gegen den Begriff der Aufklärung. Jene sich als „Aufklärer“ und ihre Zeit wegen ihrer eigenen Erleuchtungen als „das Zeitalter der Aufklärung“ bezeichnenden Autoren haben sich lautstark als die Erleuchteten und ihre Gegner, das heißt die Christen, als abergläubisch und naiv hingestellt, haben es dabei aber, wie es bei sich selbst Preisenden häufig ist, an Argumenten mangeln lassen. Die Philosophie vor der Aufklärung, also vor 1700, war im Christentum von Höchstform zu Höchstform gegangen. Zuletzt, im 17. Jahrhundert, hatte in Deutschland die sogenannte „Protestantische Scholastik“ geblüht. Das waren evangelische Christen sowohl lutherischer als auch reformierter Prägung, die professionell, als Universitätsprofessoren Philosophie betrieben. Sie erforschten philosophisch sowohl die christliche Lehre als auch die anderen großen philosophischen Fragen. Sie bauten besonders auf die katholischen spanischen Philosophen Francisco Suárez (1548–1617) und Pedro da Fonseca (1528–1599) auf – man hatte keine Hemmungen, auch von katholischen Philosophen zu lernen. Diese ersten evangelischen Philosophen haben ein gewaltiges Werk hinterlassen. Es ruht weitgehend unbeachtet auf lateinisch in den Bibliotheken und inzwischen zum Glück auch bei Google Books und anderen Digitalisierungsprojekten im Internet. Kaum einer kennt auch nur die Namen dieser fleißigen und frommen Philosophen: z.B. Rudolf Göckel (1547–1628), Nicolaus Taurellus (1547–1606), Jakob Lorhard (1561– 1609), Clemens Timpler (1564–1624), Daniel Cramer (1568–1637), Cornelius Martini (1568–1621), Jakob Martini (1570–1649). Christoph Scheibler (1589–1653) hatte sich durch seine Gedankenschärfe den Spitznamen „deutscher Suárez“ erworben. Vergessen sind diese Namen vor allem, weil „die Aufklärung“ solche nüchterne, präzise philosophische Arbeit und vor allem Philosophen, welche die christliche Lehre glaubten, analysierten und begründeten, verachtete und vergessen machen wollte. Unter den sich als

„Aufklärer“ bezeichnenden Philosophen gab es außer Immanuel Kant (1724–1804) keine namhaften wissenschaftlichen Philosophen, sondern nur Popularphilosophen, die sich auf journalistischem Niveau bewegten, etwa Johann August Eberhard (1739–1809), Christian Garve (1742–1798), Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811), Johann Leonhard Reinhold (1757–1823) und der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Die protestantischen Scholastiker, wie die meisten professionellen christlichen Philosophen vor ihnen, bemühten sich mit beträchtlichem Erfolg um Klarheit, Präzision, Logik und scharfe Argumentation, was ihnen freilich seitens der Popularphilosophen und Christentumskritiker den Vorwurf der Pedanterie und Haarspalterei einbrachte. Die Aufklärer argumentierten nicht gründlich, brüsteten sich dafür aber um so mehr damit, endlich der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen und die Welt vom abergläubischen Christentum zu befreien. Nicht die Verwendung der Vernunft, sondern diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, diese Kombination von lautstarker Vernunftrhetorik, nichtargumentativem Hohn gegen

die Christen und Abwesenheit von gründlicher wissenschaftlicher, argumentativer Arbeit ist das eigentliche Kennzeichen der Aufklärung.

2 Die Definition von „Aufklärung“

Nun mag man einwenden, nicht die ganze Aufklärung sei so. Das führt uns zu einem weiteren Grund, die Aufklärung und den Begriff der Aufklärung abzulehnen. Versucht man, eine Definition von „Aufklärung“ zu erstellen, stößt man auf Ungereimtheiten. Bei der üblichen Verwendung des Wortes „Aufklärung“ beobachtet man folgende Kennzeichen: Die Aufklärer hätten

• zum Gebrauch des Verstandes aufgerufen und einen Mangel an Vernunft in der Vergangenheit behauptet;

• tatsächlich die Vernunft gefördert;

• die Naturwissenschaft entwickelt;

• die Philosophie von der Rolle der Magd der Theologie befreit;

• die traditionelle christliche Lehre und die Autorität der Kirche und der Bibel abgelehnt;

• insbesondere den Glauben an Wunder als Aberglauben bezeichnet;

• die Metaphysik abgelehnt;

• die Monarchie abgelehnt;

• die Religions- und Meinungsfreiheit gefordert und eingeführt.

Das ist soweit kohärent, aber diese inhaltliche Definition des Begriffes paßt nicht zum Umfang des Begriffes, also dazu, wer üblicherweise zur Aufklärung gezählt wird. Die Philosophen Christian Thomasius (1655– 1728) und Christian von Wolff (1679–1754) werden fast immer per definitionem zur Aufklärung gezählt, inhaltlich trifft der Begriff der Aufklärung aber, wie man ihn auch dehnt und wendet, nicht auf sie zu. Sie verstanden sich nicht als Lichtbringer in eine dunkle Zeit und lehnten keineswegs die traditionelle christliche Lehre ab. Das Wort „Aufklärung“ oder die Vorstellung des „Jetzt bringen wir Vernunft in diese dunkle Zeit“ gab es zu ihrer Zeit noch gar nicht! Das Wort „Aufklärung“ kommt erst in den 1770er Jahren in Verwendung. Immanuel Kants Artikel „Was ist Aufklärung?“ erschien beispielsweise erst 1784, nachdem ein Jahr zuvor in der Berlinischen Monatsschrift die Frage aufgeworfen worden war. Nun könnte man sagen, auf das Wort käme es nicht an, sondern nur auf den Inhalt, doch Thomasius und Wolff vertraten gar nicht die mit „Aufklärung“ assoziierten Inhalte.

Thomasius geriet gelegentlich in Streit, zum Beispiel erregte seine Ankündigung deutschsprachiger Vorlesungen Aufruhr an der Universität. Er stand oft gegen die lutherische Orthodoxie auf der Seite der Pietisten, wurde aber auch von Pietisten kritisiert. Im großen und ganzen stimmte Thomasius aber der christlichen Lehre zu. Auch daß Thomasius sich gegen die Hexenprozesse wandte, ist zwar erfreulich, macht ihn aber noch lange nicht zu einem Aufklärer im üblichen Sinne, zumal es immer Gegner der erst im 15. Jahrhundert einsetzenden Hexenverfolgung gab. Gerade Christen hatten oft die Hexenverfolgung bekämpft. In Spanien beispielsweise war es die Inquisition, welche die Hexenverfolgung verhinderte.

Freiherr Christian von Wolff war der anerkannteste wissenschaftliche Philosoph seiner Zeit. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die – von der Aufklärung verachtete – Metaphysik, er entwickelte auch gründliche Gottesbeweise und Beweise für die Existenz der menschlichen Seele. Klarheit und Präzision hat er mit aller Kraft angestrebt, ja seine Darstellung philosophischer Argumente nach der Manier von Beweisen in der Geometrie und der Mathematik kann man als ein übertriebenes Bedürfnis nach Präzision bewerten. Abgesehen von dem von Leibniz übernommene Determinismus und seinem an Descartes und Kant erinnerndes Gewißheitsbedürfnis ist Wolffs Philosophie geradezu das Gegenmodell zur Philosophie der Aufklärung.

Auch Wolff geriet gelegentlich in Streit. Einige Pietisten kritisierten ihn u.a. wegen seines Determinismus. Wahrscheinlich war er nicht wirklich bibeltreuer Christ, aber von der aufklärerischen Ablehnung der christlchen Lehre war er meilenweit entfernt. Seinen Büchern gab er Titel, die mit den Worten „Vernünftige Gedanken über“ begannen, doch das hat noch nichts mit der aufklärerischen Rhetorik des „Wir bringen Licht ins vom Christentum verursachte Dunkel“ zu tun. Die ganze christliche Tradition sah die Vernunft als Geschenk Gottes und die Philosophie als eine Wissenschaft an. Sicher waren Thomasius und Wolff nicht so bibeltreu wie andere Philosophen ihrer Zeit und wie viele Philosophen des 17. Jahrhunderts, aber die Merkmale der Aufklärung treffen nicht auf sie zu.

Um zu verstehen, weshalb sie zur Aufklärung gerechnet werden, müssen wir die Sache anders betrachten, und zwar taktisch. Unter den anerkannten wissenschaftlichen Philosophen des 18. Jahrhunderts waren Thomasius und Wolff, wiewohl auch sie der christlichen Lehre zustimmten, vielleicht die am wenigsten bibeltreuen. Sie wurden im nachhinein zur Aufklärung gezählt, um „die Aufklärung“ mit ihren Leistungen zu schmücken und um den Mythos zu erschaffen, daß die Vernunft wie die Morgenröte ins Dunkel des christlichen Mittelalters gedrungen sei und schließlich zum Entstehen der Wissenschaft und zur Ablehnung des traditionellen Christentums geführt habe. Man hätte auch einfach nüchtern und informativ sagen können, Thomasius und Wolff hätten sich als christliche Philosophen verstanden, seien aber gelegentlich mit einigen Pietisten und mit einigen Lutherisch-Orthodoxen in Streit geraten. Doch mit dieser sachlichen Beschreibung hätte ihr Ruhmesglanz nicht auf die antichristlichen Aufklärer abgestrahlt, und die gelegentliche Opposition gegen die Kirche wäre nicht als aufklärerische Heldentat glorifiziert worden. Ähnlich wie Thomasius und Wolff erging es übrigens auch Isaac Newton, doch das wird an anderer Stelle zu behandeln sein.

Das erste Kennzeichen des Aufklärungsbegriffes ist also, daß bestimmte christentumskritische Positionen statt mit einer informativen Bezeichnung wie „christentumskritisch“ oder „naturalistisch“ mit dem Namen „Aufklärung“ belegt werden, der positiv wertend und formal ist, d.h. nicht besagt, welches die betreffende These ist. So kann man mit diesem Begriff ohne Argumente den Eindruck verbreiten, es bestehe eine Verbindung zwischen Vernunft und Christentumskritik. Man konditioniert die Menschen, man hämmert ihnen ein, Christentum und Monarchie seien widervernünftig. Das funktioniert: In der staatlichen Schule lernen die Kinder: „Aufklärung ist die Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Kant) Dann lernen sie, daß das im 18. Jahrhundert stattgefunden habe, als einige Helden gegen den erbitterten Widerstand der Kirche die Naturwissenschaft und die Philosophie entwickelt, die Autorität der Bibel abgelehnt und die Meinungsfreiheit gefordert hätten. Dem Einwand, daß es ja schon vorher Naturwissenschaft gegeben habe, entgegnet man, daß dies eben schon erste Anklänge der Aufklärung gewesen seien. Anderer Kritik an der Aufklärung hält man entgegen: „[N]atürlich ist alle Aufklärungskritik – nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sachlicher Hinsicht selber erst durch die Aufklärung möglich geworden.“ (W. Schneiders, 2001, Das Zeitalter der Aufklärung, S. 132) Das ist eine mustergültige Immunisierungsstrategie. Damit kann man die eigentliche Frage vermeiden: Was haben jene christentumskritischen Autoren, die sich selbst als „Aufklärer“ bezeichnet haben, wirklich geleistet, und welche Argumente hatten sie für ihre Christentumskritik? Ob man die Christen oder die Christentumskritiker für vernünftig hält, ist Diskussions- und Ansichtssache. Doch die Diskussion wollen die Aufklärer vermeiden, sie wollen Menschen durch Bluff und Gefühle beeinflussen. Durch das ehrfurchterregende „Die Aufklärung hat gegen den Widerstand der Kirche die Naturwissenschaft entwickelt und den Wunderglauben der Kirche hinterfragt“ oder „Man kann heute, im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr an Wunder glauben“ kann man Menschen stärker beeinflussen, als wenn man sich auf die Diskussion einließe, was eigentlich gegen das Vorkommen von Wundern spricht. Das ist eine Art Des-Kaisers-neue-Kleider-Strategie.

3 Warum wird vom „Zeitalter“ der Aufklärung geredet?

Doch das ist noch nicht die ganze Strategie. Ein weiterer wesentlicher Zug des Aufklärungsmythos ist die Rhetorik vom „Zeitalter“ der Aufklärung. Damit wird erstens der Eindruck erweckt, es habe zu dieser Zeit keine andersdenkenden Denker gegeben oder diese verdienten keine Aufmerksamkeit. Sie werden, um einmal freudianisch zu sprechen, verdrängt. Das funktioniert offensichtlich. Ich erinnere an all die christlichen, ja meist ganz entschieden bibeltreuen (nach der heute herrschenden Rhetorik „fundamentalistischen“) Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere (chronologisch geordnet, wobei ich nur deutsche Philosophen nenne) Johann Franz Buddeus (1667–1729), Joachim Lange (1670–1744), Andreas Rüdiger (1673–1731), August Friedrich Müller (1684–1761), Franz Albert Schultz (1692–1763), Johann Georg Walch (1693–1775), Martin Knutzen (1713–1751), Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), Christian August Crusius (1715–1775), Benedikt Stattler (1728–1797, katholisch). Warum sind diese Philosophen heute weitgehend unbekannt? Gute Frage! Zweitens steht hinter der Rede vom „Zeitalter“ der Aufklärung die Vorstellung, daß es zu jeder Zeit einen Geist und eine Entwicklungsrichtung dieses Geistes gebe. Diese Vorstellung findet sich auch in der Lehre des Marxismus wieder, daß sich die Geschichte unausweichlich hin zur Revolution bewegt. Viele Ideologien verwenden so ein den Geist der Zeit oder den Fortschritt beschwörendes Selbstverständnis, indem sie Formeln verwenden wie „Jetzt ist die Epoche des X!“, „Eine neue Zeit bricht an!“, „Wir dürfen uns dem Fortschritt nicht entgegenstellen!“, „X ist nicht zeitgemäß“ oder „Man kann heute nicht mehr an Wunder glauben!“. Damit wird ein Meinungsdruck erzeugt, denn viele Menschen finden es unangenehm, eine Meinung zu vertreten, der solche Rhetorik entgegengebracht wird.

Der Rede vom „Zeitalter“ der Aufklärung ist entgegenzuhalten, daß sie fälschlicherweise suggeriert, eine Zeit habe ein bestimmtes Denken. Das ist der Vorstellung verwandt, daß es „das jüdische Denken“ und „das griechische Denken“, „das Denken des Mittelalters“ und „das Denken der Moderne“ gebe. Natürlich gibt es weltanschauliche Moden und Bewegungen, aber zumindest in einer halbwegs hochentwickelten Gesellschaft gibt es zu jeder Zeit ganz verschiedene, einander widersprechende weltanschauliche Meinungen. Insbesondere gibt es in Europa seit knapp zwei Jahrtausenden zu jeder Zeit Christen und Christentumsgegner, Theisten und Atheisten. Welche dieser Meinungen wahr und welche falsch sind, sollte man untersuchen und diskutieren. Einigkeit über die Existenz Gottes wird es vorerst nicht geben. (Interessant ist: Während viele Atheisten glauben, ihre Auffassung werde sich immer mehr durchsetzen, lehrt das Christentum, daß die Christen meistens eine Minderheit sein werden und daß es irgendwann mal zu einem großen Abfall kommen wird.) Der Hinweis, daß die eine Auffassung der Zeit entspreche oder daß man die andere Auffassung – wie oft gesagt wird – „seit der Aufklärung“ nicht mehr annehmen könne, läßt einen rationalen Menschen völlig unbeeindruckt.

4 Kurz gesagt

Kurz zusammengefaßt: Christentumskritiker wurden „aufgeklärt“ genannt, Christen „unaufgeklärt“, „unvernünftig“, „abergläubisch“. Ein vernünftiger Mensch läßt sich durch diese Rhetorik kein bißchen beeindrucken, ihm geht die Propaganda auf die Nerven. Doch die meisten Menschen sind nicht so vernünftig und durchschauen die Propaganda nicht ganz.

Etwas ausführlicher zusammengefaßt: Ende des 18. Jahrhunderts traten einige das Christentum ablehnende Journalisten und Literaten auf, die sich als die „Aufklärer“ und die christliche Vergangenheit als dunkel, unvernünftig und naiv bezeichneten. Sie zählten einen akademischen Philosophen zu den ihren, nämlich Immanuel Kant (1724– 1804), aber ansonsten gab es im 18. Jahrhundert wie auch in den früheren Jahrhunderten jede Menge der christlichen Lehre zustimmende wissenschaftliche Philosophen. Diese Journalisten begannen nun, angeregt durch Gleichgesinnte in Frankreich (insbesondere Voltaire, 1694–1778), sich selbst als Aufklärer zu stilisieren, die christliche Lehre apodiktisch und ohne ernstzunehmende Argumente als widervernünftig und das christliche Mittelalter als dunkel hinzustellen. Um das Bild vom Aufbruch der Vernunft abzurunden und um einige anerkannte Wissenschaftler zu den ihren zählen zu können, werden Thomasius und Wolff (sowie Isaac Newton) auch als Aufklärer bezeichnet und die Vorstellung vom „Zeitalter“ bemüht. Ein „Zeitalter“ der Aufklärung? Nein, nur eine kleine Gruppe von Journalisten, die mehrere Jahrzehnte nach Thomasius’ und Wolffs Tod behaupteten, jene seien auch schon Aufklärer gewesen. Aufklärung? Vernunft? Wissenschaft? Kaum, denn – mit der Ausnahme von Kant, dessen Ausführungen ich zwar keineswegs für überzeugend halte, die aber ungleich gründlicher sind als die aller anderen Aufklärer – haben die Aufklärer keine ernstzunehmenden Argumente vorgetragen.

Es ist ganz widervernünftig, sich von der Aufklärungsrhetorik beeindrucken zu lassen und zu glauben, daß es da ein Zeitalter der Aufklärung gegeben habe, daß im Christentum davor Dunkel geherrscht habe oder daß zu dieser Zeit Christentumsgegner bemerkenswerte Errungenschaften gebracht hätten. In der englischen Literatur über die Aufklärung wird deshalb schon lange untersucht, wie es zur Aufklärungsrhetorik und zur Stilisierung des 18. Jahrhunderts als

„Zeitalter der Aufklärung“ kam und wieso sie so erfolgreich war. Dan Edelstein in seinem Buch The Enlightenment: A Genealogy (2010) spricht zu Recht von „narrative“ und „myth“. In diese Richtung hatten schon Peter Gay (The Enlightenment: An Interpretation, 1966) und Herbert Butterfield (The Origins of Modern Science, 1958) gewiesen. Aber in Deutschland blieb bisher die Aufklärung unhinterfragt, und die Kinder lernen immer noch in der staatlichen Schule, daß Aufklärung die Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sei und daß dies im 18. Jahrhundert stattgefunden habe.

Dieser Text ist zuerst erschienen am 17.2.2014 auf www.professorenforum.de. Er steht unter der Creative-Commens-Namensnennungslizenz creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/.

Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter ist Professor und Direktor der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, www.iap.li. Sein Forschungsschwerpunkt ist Metaphysik und Religionsphilosophie. Viele seiner Veröffentlichungen sind auf www.von-wachter.de herunterladbar.

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