Andreas Liese. Verboten – geduldet – verfolgt: Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung. Edition wiedenest. Hammerbrücke: Jota Publikationen, 2003. 642 S.
Diese geschichtswissenschaftliche Dissertation schließt eine Forschungslücke. Denn auch wenn es schon bisher Bücher über die Geschichte der Christlichen Versammlung oder ihrer Zweige von Autoren aus den eigenen Reihen gab, hat doch bisher niemand alles noch verfügbare Quellenmaterial aufgesucht, erfaßt und ausgewertet. Dies gilt für Quellen auf Seiten der Brüderbewegung ebenso wie auf Seiten der mit ihr verfaßten staatlichen oder nationalsozialistischen Behörden. Entstanden ist bei der Quellenauswertung eine ausgezeichnete, sehr gut belegte Forschungsarbeit, die die Ereignisse allerdings weder allzu sehr in die Gesamtgeschichte des Dritten Reiches einbettet, noch theologische Fragen vertieft oder bewertet. Dass der Verfasser selbst der Brüderbewegung angehört, macht sich nirgends bemerkbar, wenn man einmal davon absieht, dass nur ein Insider an manche Quellen und Informationen gelangen konnte, da die Brüderbewegung nie über eine Zentrale verfügte, sondern von einer für Archivforschung fast entmutigenden Dezentralität geprägt ist.
Auch wenn mit dieser Forschungsarbeit viele historische Einzelfragen geklärt werden konnten und sich ein differenziertes Bild des Verhaltens der einzelnen Richtungen und Verantwortlichen ergibt, ist das eigentlich Neue an der Arbeit, daß der Verfasser am Ende ein recht geschlossenes Gesamtbild zeichnen kann, 1. warum dieNationalsozialisten die Christliche Versammlung verboten, ihr dann aber den Ausweg einer Neugründung des Bundes freier Christen ließen, und 2. wie die Christliche Versammlung auf den Nationalsozialismus reagierte.
Zur 1. Frage ist zu sagen: Es war die Abstinenz gegenüber dem Staat, etwa in der Wahlverweigerung, gegen die Staat und Partei im Dritten Reich zu Felde zogen, nicht irgendeine Kritik am Staat. Als man schließlich erkannte, daß es in Wirklichkeit eine Reihe aktiver Parteimitglieder und NSDAP-Wähler gab und die Bewegung im Wesentlichen zunächst für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler dankbar war, war das Verbot bereits ausgesprochen und nicht zurücknehmbar. Das führte schließlich dazu, daß man die Möglichkeit der Gründung eines Gemeindebundes unter Leitung genehmer Führer anordnete bzw. zuließ.
Zur 2. Frage ist zu sagen: Die Christliche Versammlung verweigerte den Anordnungen der Nationalsozialisten deswegen oft den Gehorsam, weil ihre theologischen Überzeugungen keine Änderungen an Kirchenstruktur, Gottesdienstgesaltung usw. zuließen, nicht aber aufgrund einer kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus an sich. Echten, gar politischen Widerstand kann der Verfasser nirgends ausmachen, auch keinen verbalen Einsatz für Juden oder gar die aktive Rettung von Juden. Letzteres ist eine interessante Aussage angesichts der These von Hal Lindsey, daß Vertreter der dispensationalistischen Theologie sich im Dritten Reich automatisch für Juden eingesetzt hätten, während Vertreter reformierter oder anderer Ansätze automatisch gegen die Juden gewesen seien. Grund für die Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz für die Juden war sicher nicht so sehr die theologische Einordnung der Juden, sondern neben der allen gemeinsamen Angst und Feigheit die generelle (sicher teilweise auch heilsgeschichtlich begründete) Ablehnung jeder politischen Betätigung bzw. deren Verweisung in das Privatleben der Gemeindeglieder.
Auch wenn der Verfasser sich insgesamt mit Urteilen sehr zurückhält und erst Recht in der Regel keine theologische Bewertung vornimmt, kommt er dann doch am Ende zu dem Schluß, daß die theologisch begründete Ablehnung jeder politischen Thematik die Christliche Versammlung gerade nicht dem Staat gegenüber besonders kritisch gemacht habe. Inmitten schwierigster Situation bekämpfte man doch vorrangig andere Richtungen der Brüderbewegung mit vergleichsweise geringen Abweichungen, anstatt den wahren Feind zu erkennen und zu benennen. Das ist eine wichtige Warnung an uns alle, sofern wir bereits sind, aus der Geschichte zu lernen.
Andrea Riccardi. Salz der Erde, Licht der Welt: Glaubenszeugnis und Christenverfolgung im 20. Jahrhundert. Aus dem Italienischen. Herder: Freiburg, 2002. 495 S.
Das Interesse am Thema Christenverfolgung wächst weltweit innerhalb und außerhalb der Kirchen. Doch während sich Untersuchungen zur aktuellen Gegenwart ständig vermehren, sind solche zur Geschichte eher selten. Angeregt von dem wachsenden Archivmaterial, dass in Rom gesammelt wird, seitdem Papst Johannes Paul II. alle katholischen Teilkirchen und Orden aufgefordert hat, systematisch Material über Märtyrer der Gegenwart und Vergangenheit zu sammeln, hat eine Italienerin eine umfassende Geschichte der Verfolgung katholischer Christen in aller Welt verfaßt. Die Autorin teilt den Stoff in neun Kapitel zur Sowjetunion, zum Dritten Reich, zum kommunistischen Osteuropa, zum asiatischen Kommunismus, zur islamischen Welt, zu Mexiko und Spanien, zu Afrika seit der Unabhängigkeit, zur Zählung und Einteilung der Märtyrer und, für Missiologen besonders interessant, in Kapitel IV. über ‚Martyrium und Mission’. Während die anderen Kapitel vorwiegend auf die einheimischen Christen und Kirchen eingehen, wird hier vor allem das Schicksal ausländischer (längst nicht nur westlicher!) Missionare und Angehöriger von Missionsorden geschildert.
Das gut ausgestattete und gründlich recherchierte und belegte Werk verwendet natürlich im Original kaum deutsche Quellen und Literatur. Aber neben die zahlreichen Belege vor allem in italienischer und französischer (erstaunlicherweise seltener in englischer) Sprache sind ungewöhnlich viele Belege auf Deutsch getreten und man hat sehr gründlich nach deutschen Übersetzungen der verwendeten Werke gesucht, wie überhaupt die Übersetzung nicht merken läßt, dass der Text gar nicht auf Deutsch verfaßt wurde.
Das Buch ist historisch ausgerichtet und bietet wenig theologisches Material, etwa zur Frage, wie Christenverfolgung und Martyrium geistlich einzuordnen sind – sieht man einmal vom fünfseitigen Vorwort von Manfred Scheurer ab, der einige Stimmen aus der Kirchengeschichte zitiert und sich wie ich selbst (siehe Christenverfolgung geht uns alle an, Idea-Dokumentation 15/1999 und Persecution Concerns Us All. VKW: Bonn, 2001) der recht weiten Märtyrer-Definition von Karl Rahner anschließt.
Märtyrer anderer Konfessionen erscheinen, wenn es sich aus dem Material oder vorhandenen Büchern ergab, am Rande ebenfalls (außer es handelt sich um berühmte Fälle wie der Genozid an den Armeniern), werden aber nirgends systematisch erfaßt oder thematisiert (siehe z. B. S. 60-61 über „die Lutheraner, die Baptisten und die Evangelikalen“ in der Sowjetunion der 30er Jahre) – eine eindeutige Schwäche des Werkes, spricht doch der Papst selbst davon, dass die Ökumene der Märtyrer die stärkste Ökumene sei (S. 19-20) und weitet seinen Leidensbegriff weit über seine Kirche hinaus aus (siehe dazu mein Buch ‚Der Papst und das Leiden’. VTR: Nürnberg, 2002).
Es ist bedauerlich, dass es derzeit kein ökumenisches, protestantisches oder evangelikales Gegenstück zu diesem Werk gibt und auf absehbare Zeit wohl auch nicht geben wird.
Dana L. Robert. Occupy until I Come: A. T. Pierson and the Evangelization of the World. Wm. B. Eerdmans: Grand Rapids (MI), 2003. 331 S. Pb. 32.00 $
Nach mehr als einem Jahrhundert wird endlich wieder eine Biografie des legendären Missionsmannes Arthur Tappan Pierson (1837-1911) vorgelegt. Selbst nie Missionar und doch ständig in Sachen Mission auf Reisen, war Pierson die graue Eminenz der weltweiten Studentenmissionsbewegung des 19. Jahrhunderts und der führende Förderer und Verteidiger der Weltmission im evangelischen und evangelikalen Bereich. Die Autorin ist Professorin für Weltmission in der Universität Boston und durch ihr Buch ‚American Women in World Mission’ bekannt. Wie in diesem Buch legt sie auch in ihrer Pierson-Biografie ein historisches Meisterwerk vor, sowohl was das Wirken und die theologische Entwicklung Piersons betrifft, als auch, was das theologische und soziale Umfeld seiner Zeit betrifft. Wer die Biografie an einem Stück liest, erhält ein faszinierendes Gesamtbild der angelsächsischen Frömmigkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwar enthält das Buch leider und angesichts der Gründlichkeit völlig unverständlicherweise keine Fußnoten und keine detaillierten Quellenbelege, dafür aber eine sehr gute und ausführliche Diskussion der vorhandenen Bücher zum Thema und zum Umfeld.
Faszinierend ist der geistliche und theologische Lebenslauf Piersons, der wie so viele Evangelikale seiner Zeit mehrere konfessionelle Zugehörigkeiten durchlief und von allen Richtungen lernte und etwas für immer festhielt. Von Haus aus Presbyterianer erbte er von seinen reformierten Lehrern die fundamentalistische Bibelhaltung, den Optimismus in der Evangelisation und den Einsatz für soziale Belange. Doch durch seine weitgespannten Kontakte – vor allem in den USA und in England –, etwa durch seine Besuche bei seinen Freunden Charles H. Spurgeon (S. 49-50) und Georg Müller, und durch seinen Einsatz im Rahmen der Evangelischen Allianz und des CVJM wurde aus dem reformierten Evangelisten ein evangelikaler Erweckungsprediger. Eine Midlifekrise wegen der zunehmenden Armut in den Großstädten (S. 85ff), gegen die die Evangelisation nichts ausrichten konnte, ließ ihn pessimistischer werden und führte schließlich 1876 zu einer Art zweiter Bekehrung. Pierson schloß sich der Heiligungsbewegung an, nahm sich Charles Finney zum Vorbild (S.89ff) und wurde schließlich 1879 Prämillenialist wie Georg Müller (S. 103-106+151), bleibt dabei aber optimistisch was die Zunahme und den Erfolg der Weltmission betrifft. 1886 schließlich beginnt die Studentenmissionsbewegung, als sich 100 Studenten auf einer seiner Bibelfreizeiten entschließen, Missionare zu werden. Pierson verläßt das Pastorat und wird Erweckungsevangelist in Sachen Mission. Sein Buch ‚The Crisis of Missions’ (S. 140-144) rüttelt die evangelische Welt auf.
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere läßt er sich wiedertaufen, nachdem er zwei Jahre ohne Wiedertaufe auf der Kanzel Spurgeons gepredigt hatte. Die Baptisten weltweit warfen ihm jedoch lautstark vor, die Taufe privat im kleinen Kreis durchgeführt zu haben, die Presbyterianer entzogen ihm die Ordination und die ökumenisch orientierten älteren Kirchen die Unterstützung (S. 245-249). Viele Freunde wandten sich von ihm ab. Doch die gewonnene Zeit nutzte er für eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die meisten zum Thema Mission, einige außerdem zur Bibel. Denn – was gerne verschwiegen wird, wenn zu Recht Piersons ökumenische Gesinnung hervorgehoben wird – Pierson war immer ‚Fundamentalist’ (S. 279-283) und schrieb fünf Beiträge für die namensgebende Buchserie des Fundamentalismus ‚The Fundamentals’. Sein erstes Buch zur Verteidigung der Bibel verfaßte er bereits 1880 (S. 97), sein Buch ‚God’s Living Oracle’ gilt James I. Packer bis heute als eine der bedeutendsten Verteidigungen der Einheit der Bibel (S. 266-267).
Pierson ist ein herausragendes Beispiel dafür, daß Bibeltreue, Evangelisation, Förderung der Weltmission, weitherzige Zusammenarbeit, und Einsatz gegen die sozialen Übel dieser Welt Hand in Hand gehen können und daß auch evangelikale Christen immer Lernende bleiben.
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Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. h. c. Thomas Paul Schirrmacher, Jahrgang 1960, 1978-82 Stud. Theol. STH Basel, 1982 Mag. theol., 1985-91 Stud. Vergleichende Religionswiss., Völkerkunde u. Volkskunde an d. Univ. Bonn, 1984 Drs. theol. Theol. Hogeschool Kampen/NL, 1985 Dr . theol. Johannes Calvijn Stichting Theolog. Hogeschool Kampen/NL, 1989 Ph. D. (Dr . phil.) in Kulturalanthropologie Pacific Western Univ. Los Angeles, 1996 Th. D. (Dr . theol.) in Ethik Whitefield Theological Seminary Lakeland, 1997 D.D. (Dr. h.c. ) Cranmer Theological House Shreveport. 1983-90 Doz. Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. FTA Gießen, 1984-89 Doz. f. Altes Testament u. Sozialethik Bibelseminar Wuppertal, seit 1993 Doz. Sozialethik u. Apologetik Bibelseminar Bonn, seit 1984 Gen.-Dir . d. IWGeV , seit 1985 Chefhrsg. d. Verlag f. Kultur u. Wiss., zusätzl. seit 1987 Inh., seit 1986 Präs. u. wiss. Koordinator Theological Education by Distance Deutschland (TFU) Altenkirchen, 1991-96 Lehrstuhl Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. STH Basel, zusätzl. 1995-96 Lehrstuhl f. Ethik, 1991-96 Lehrstuhl f. postgraduate studies in Missionswiss. u. Vergleichende Religionswiss. FST Genf, zusätzl. 1995-96 Lehrstuhl f. Ethik, seit 1994 Prof. f. Missionswiss. Philadelphia Theological Seminary Philadelphia, seit 1996 Prof. f. Ethik Cranmer Theological House Shreveport, seit 1996 Rektor u. Prof. f. Ethik Martin Bucer Seminar Bonn, seit 1996 Prof. f. Theology u. Dir. d. dt. Zweiges Whitefield Theological Seminary, seit 1996 Rektor d. Martin Bucer Seminar Bonn. P.: 29 Bücher, darunter „Ethik“ (1993), zahlr. wiss. Artikel in dt., engl., niederländischer u. russischer Sprache, Chefredakteur Bibel u. Gem. 1988-97, Chefredakteur „Querschnitte“ 1988-92, Mithrsg. seit 1992, Hrsg. seit 1997, seit 1994 Mithrsg. Intern. Review for Reformed Missiology NL, seit 1992 Europ. Hrsg. Contra Mundum: a Reformed Cultural Review (USA), 1992-96 Redaktion Evangelikale Missiologie, seit 1996 Chefredakteur Evangelikale Missiologie, Hrsg. v. Buchreihen, alleinger Hrsg. v. 3 Buchreihen, Chefredakteur v. 3 Buchreihen, Mithrsg. v. 6 Buchreihen. E.: 1997 Dr. h.c. Cranmer Theological House Shreveport, berufenes wiss. Mtgl. Dt. Ges. f. Missionswiss. M.: AfeM, 1985-87 Kurdisches Inst., seit 1988 Chefredakteur Bibelbund Reiskirchen, 1994-97 Präs. d. Inst. f. Islam u. Christentum Bruchsal, 1993-96 Präs. PBC Bonner Bez., seit 1987 Sprecher ISM Deutschland, seit 1992 Sprecher Ev. Allianz Bonn, seit 1996 Präs. Aktion christl. Ges. Bonn. H.: Intern. Zoos, klass. Musik (Bach b. Tschaikowsky), klass. Krimis
Thomas Schirrmacher ist im Rahmen der Deutschen Ev. Allianz und der World Evangelical Felloship in Menschenrechtsfragen aktiv und lehrt zur Zeit Ethik am Whitefield Theological Seminary (Lakeland, USA)