Sozialwissenschaften

Akademische Bildung und christliche Verantwortung heute. Gilt das Recht der akademischen Freiheit noch?

Michaela C. Hastetter · 
03.03.2019

Vortrag auf dem deutsch-georgischen Bildungssymposium, 23.-25.11.2018 in Wien

Bildung ist einer der ganz großen Begriffe, die auf eine lange Begriffsgeschichte zurückblicken dürfen. Im zeitgenössischen Diskurs werden drei Etappen der Bildung eingeteilt: „eine theologisch dominierte, […] eine aufgeklärt-pädagogische und […] eine moderne, die primär selbstreflexiv bestimmt ist“. Mit dieser Einteilung käme dem Christentum nur in der ersten Etappe eine bildungsprägende Rolle zu. Doch schon der Historiker Reinhart Koselleck hat hier eingewandt, dass die eine Etappe nicht ohne die andere möglich gewesen wäre, da nämlich „die erste theologische auch in der zweiten aufgeklärten Etappe enthalten ist und daß beide vorangegangenen Phasen auch in den neuzeitlichen Bildungsbegriff eingegangen sind“. Das Christentum ist damit vom Wesen und Auftrag der Bildung nicht wegzudenken, was es uns heute zurecht erlaubt, über die christliche Verantwortung in Bezug auf die Bildung neu nachzudenken. Die Verortung dieser christlichen Bildungsverantwortung ist freilich vielfältig und umfasst ganz unterschiedliche Räume. Im Folgenden sei der Fokus auf das Wesen der akademischen Bildung und die christliche Verantwortung gelegt. Damit soll in diesem Kurzbeitrag im Rekurs auf Reflexionen von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., die historische Außensicht der Bildung zum inneren Wesen der Bildung auf der akademischen Ebene hin gewendet werden, der in einer Reihe von Beiträgen hierzu wertvolle Impulse geliefert hat.

Akademisch bezeichnet gemeinhin den „besonderen Charakter eines Universitätsstudiums“, was nach Marius Reiser, Neutestamentler und zugleich einer der renommiertesten Kritiker des Bologna-Prozesses, „weder zufällig noch belanglos“ ist. Der Begriff der Akademie oder des Akademischen geht bekanntlich auf die Akademie Platons zurück. Sie war eine im Norden von Athen, am Rande der Stadt, in einem idyllischen Hain gelegene Philosophenschule. Dieser Wald war aber nicht nur Naturidylle, sondern der heilige Bezirk eines Götterwaldes. Das bedeutet für die Geburtsstunde alles Akademischen, dass die Akademie mehr war als nur eine reine Lehr- oder Schulanstalt: Platons Akademie, von ihrem Namen einfach „vorstädtischer Tempelbezirk“, war „eine Lebensgemeinschaft von Lehrern und Schülern, der Rechtsform nach ein religiöser Verein, der sich dem Kult der Musen widmete“.

In seinem Aufsatz „Vom Wesen des Akademischen und seiner Freiheit“ geht auch Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., von Platons Akademie aus und sieht darin aus heutiger Sicht eine gewisse Ambivalenz: denn auf der einen Seite hafte dem Platonischen heute etwas von Weltflucht und Irrealität an, auf der anderen Seite sei „der Glanz des Wortes ,akademisch’“ sogar noch „gewachsen, da nämlich, wo von ,akademischer’ Freiheit die Rede ist.“ Und er sagt: „Dass es einen Freiraum des Geistes geben muss, der nur seinen eigenen Regeln folgt, aber keiner Normierung von außen untersteht, ist in einer Gesellschaft wichtig geworden, die insgesamt vom Ruf nach Freiheit geprägt ist, aber auch überall von Zwängen bestimmt wird, die in einer vortechnischen Welt gar nicht denkbar waren.“ Um sich der Frage nach dem Wesen des Akademischen und seiner Freiheit zu vergewissern, geht Ratzinger nun genau jener Schnittstelle von Akademie und Freiheit nach, die von Platons „grundlegendem Anspruch des Geistes auf sein Fragen und seinen eigenen Weg“ vorgeprägt ist. Wesentlich am Akademischen sieht Ratzinger von Platon her drei Momente: (1) der Dialog, als ein Beziehungsgeschehen, das mit dem Hören beginne und sich in einer Freundschaftsgemeinschaft entfalte, in der man auf die sie einende Wahrheit höre und kommuniziere, die Ratzinger den „inneren Meister“ nennt; (2) die Freiheit, auf der einen Seite als „Möglichkeit, alles zu denken, alles zu fragen, alles zu sagen, was im Ringen um die Wahrheit als sagens-, fragens- und denkwürdig erscheint“, und die auf der anderen Seite nur in der Wahrheit wirkliche Freiheit sei („Die Freiheit des Machens und die Freiheit der Wahrheit sind zur eigentlichen Alternative unserer Stunde geworden. Aber die von der Wahrheit ungehemmte Freiheit des Machens ist die Diktatur der Zwecke in einer wahrheitslosen Welt und damit die Versklavung des Menschen unter dem Schein seiner Befreiung.“); (3) schließlich die Verschränkung von Wahrheit und Freiheit als Kern des Akademischen, da nur dort, wo an der Wahrheit festgehalten werde, das Akademische ermöglicht werde. Wahrheit bildet für Ratzinger gleichsam den Seinsgrund des Menschen, während dort, wo die Wahrheit fehle, man sich in sich selbst verschließe und anfällig werde für die Autarkie, ins Gerede und Geschwätz verfalle, bindungslos werde usw., was dann bei Ratzinger einmündet in (4) den Kult, als Teil der Akademie Platons, wo man die Musen kultisch verehrte, und damit konstitutives Element des Akademischen. Denn die „Freiheit für die Wahrheit und die Freiheit der Wahrheit kann“ nach Ratzinger „letztlich nicht sein ohne die Anerkennung und die Verehrung des Göttlichen“, was das Akademische aus dem reinen Nützlichkeitsdenken heraushebe („Die Freiheit von der Nützlichkeitspflicht kann nur begründet werden und nur bleiben, wenn es das vom Nutzen und vom Eigentum des Menschen wirklich Herausgenommene gibt, wenn das höhere Eigentumsrecht und der unberührte Anspruch der Gottheit besteht“, letztlich „die Freiheit, die Gott der Welt gegenüber hat und gibt.“

Nun ist aber in der westlichen Theologie – aber nicht nur in der Theologie – genau das, was Ratzinger als Kern des Akademischen gefasst hat, nämlich dass Freiheit und Wahrheit in einer inneren Verschränkung stehen, aufgelöst in das Postulat einer von der einen Wahrheit losgelösten Freiheit, die sich im Plural der Wahrheiten manifestiert und bewusst auf ein „Zentralkriterium“ als Referenzpunkt der Wissenschaft verzichtet. Der Kanon der Wissenschaften hat sich gleichsam in einem großen fächerübergreifenden Konsens vom Singular der Wahrheit verabschiedet. 2018 schreibt hierzu symptomatisch der Katholik und Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet in seinem Buch „Erstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen“ aufgrund des in der Theologie immer noch vorhandenen Gottes- und damit Wahrheitsbezuges: „Eigentlich kann man nur davor warnen, Theologe zu werden – diesen Anspruch einer Gesamtdeutung dessen, was die Welt ist, erhebt im System der Wissenschaften niemand mehr, außer eben ihr, der Theologie, und auch hier wird dieser Anspruch nur noch von Ausnahmen erhoben.“ Als Folge dieses Prozesses spricht man symptomatisch nicht mehr von Theologie (im Singular), sondern von Theologien (im Plural), nicht mehr von Musik, sondern von Musiken oder neuerdings eben auch nicht mehr von der Schleifung der Bastion, sondern der Bastionen. Nun könnte man meinen, dass die Orthodoxie, auch im Akademischen, durch ihre starke Traditionsgewissheit von solchen Umbrüchen bewahrt worden wäre. Doch auch hier machen sich ganz ähnliche Tendenzen breit. Panteilis Kalaitzidis, griechisch-orthodoxer Theologe an der Volos-Akademie und neuerdings Experte der neuen Jungen Pro-Oriente-study-group, wirft der Orthodoxie ein unentwegtes Zurück zu den Quellen vor, zu den Schriften der Vätern, zu dem, was sie im Tresor ihres Glaubens gelagert habe ohne sich dem Anspruch der menschlichen Vernunft im Heute zu stellen, was einer Form des Monophysitismus gleichkomme. Er plädiert für einen Paradigmenwechsel hin zu einer post-patristischen, modernen orthodoxen Theologie, mit der der Mythos der Vätertheologie überwunden werden müsse. „An erster Stelle erhoffe ich dabei die Möglichkeit eines Raumes der Freiheit für einen Dialog mit einem offenen Geist, wo alle Meinungen ausgedrückt und studiert werden können, im Respekt der Verschiedenheit des ,Anderen’, der das Bild des ,[Ganz-]Anderen’ schlechthin ist: Gott.“ Ohne dass Striet (kath.) und Kalaitzidis (orth.) bisher aufeinander verweisen, fordern doch beide eine auf der Freiheit begründete Theologie im Plural, wobei Striet sich vom Singular der Wahrheit, Kalaitzidis vom Zurück zu den Vätern absetzt, was ziemlich auf dasselbe hinauslaufen dürfte.

Die Freiheit des Akademischen ist eng geworden. Wo unter dem neuen „Zentralkriterium“ der Freiheit das Postulat des Plurals herrscht, gerät der Singular der Wahrheit in Verdacht, der geschichtlich gesehen überhaupt den Ermöglichungsgrund eines akademischen Denkens über die Rede von Gott (Theologie) garantiert hatte. Die in den Plural gewendete Gretchenfrage der Spätmoderne würde damit lauten: Wie hältst du’s mit der Freiheit? Wo im Akademischen die mit der Wahrheit verschränkte Freiheit fällt und Freiheit zum Zentralkriterium für viel Wahrheiten wird, dort fällt auch das, was das Wesen der akademischen Bildung ausgemacht hat. Die Folgen sind spürbar: Statt des Dialogs in einer Freundesgemeinschaft herrscht akademische Exkommunikation von Non-Pluralisten, während das urakademische Wesen gerade in der Freiheit bestand, „alles zu denken, alles zu fragen, alles zu sagen, was im Ringen um die Wahrheit als sagens-, fragens- und denkwürdig“ erschien. Hat die „Diktatur des Relativismus“ nicht gerade das Recht der akademischen Freiheit verraten, indem sie Freiheit unversehens als ihr neues Zentralkriterium eingeführt hat, trotz ihrer Absage an eine wissenschaftliche Gesamtdeutung der Welt? Dies zeigt, dass die akademische Bildung einer neuen Moderne auch in Zukunft nicht auf eine mit der Wahrheit verschränkte Freiheit verzichten darf und kann, will sie Bildung im umfassenden Sinne ihres Wortes sein, „bildunga“ (althochdeutsch: Schöpfung, Bildnis, Gestalt), kreatives und freiheitliches Wahrheitsgeschehen. Darin liegt die christliche Verantwortung für das Wesen des Akademischen und dies wird zur Überlebensfrage der Akademie überhaupt. Das Wiener Studienhaus Johannes von Damaskus mit seiner akademischen Dimension im Dialog von Freundesgefährten aus der östlichen und westlichen christlichen Tradition, der Verpflichtung für eine mit der Wahrheit verschränkte akademische Freiheit und seiner täglichen Praxis des Kultes mag ein Schritt hin zur Wiederbelebung der christlichen Verantwortung für das Akademische sein.

[1] Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006, 114.

[2] Koselleck, Begriffsgeschichten, 114.

[3] Vgl. hierzu die verschiedenen Beiträge in den Teilbänden 9/1 und 9/2 in der Reihe Joseph Ratzinger Gesammelte Werke, Regensburg 2016.

[4] Marius Reiser, Von Platon bis Humboldt, in: ders., Bologna: Anfang und Ende der Universität (Forum Deutscher Hochschulverband 80), Bonn 2010, 95-110, hier 95; vgl. zum Folgenden ebd.

[5] Ratzinger, Interpretation, 133.

[6] Reiser, Platon bis Humboldt, 95.

[7] Joseph Ratzinger, Interpretation – Kontemplation – Aktion. Überlegungen zum Auftrag einer Katholischen Akademie, in: JRGS 9/1, 125-134, hier 125; vormals in seinem Buch „Wesen und Auftrag der Theologie“ (1993) in derselben Fassung veröffentlicht unter der Überschrift „Vom Wesen des Akademischen und seiner Freiheit“.

[8] Ratzinger, Interpretation, 125.

[9] Ratzinger, Interpretation, 126.

[10] Ratzinger, Interpretation, 127

[11] Ratzinger, Interpretation, 130.

[12] Ratzinger, Interpretation, 134.

[13] Ratzinger, Interpretation, 134.

[14] Andreas Marti, Jetzt wird es kompliziert, Vortrag beim Symposium in Luzern zum Musikschaffen in den drei großen monotheistischen Religionen, am 10. November 2018.

[15] Magnus Striet, Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen, Freiburg 2018, 7.

[16] Vgl. Panteleis Kalaitzidis, Du „Retour aux Pères“ à la nécessité d’une théologie orthodoxe, in: STINA 56 (2011), 227-251, hier 230 ff.; hierzu auch im Folgenden.

[17] Kalaitzidis, Du Retour, 251 (Eigenübersetzung aus dem Französischen).

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